Dienstag, 11. Dezember 2018
War Varus mehr Opfer als Täter ?
Gewachsene Denkhindernisse zu überwinden oder sich an historische Grauzonen heran zu wagen bedeutet manchmal auch über Minenfelder wandern zu müssen, die bereits seit Jahrzehnten und manchmal sogar seit Jahrhunderten von verschiedenen Historikern abgesteckt wurden und als nahezu unverrückbar galten. Andererseits gab es auch schon in früheren Zeiten Autodidakten und andere Freunde der römisch germanischen Forschung die nie publizierten und so konnte man auch nie erfahren wie weit sie sich schon gedanklich der Wahrheit genähert hatten, ob sie bereits über stichhaltige Fakten verfügten, also über die Hinweisschwelle hinaus waren oder gar schon die Beweiszone betreten hatten. Abhanden gekommenes Wissen aufzuspüren oder zurück zu holen, wenn es mit ihren geistigen Vätern im Lebenszyklus einmal verloren ging, sind seltene Glücksmomente der Forschungsgeschichte. Früher war es zudem auch nicht so leicht seine Meinungen, seine Ansichten und Visionen mithilfe von Druckerzeugnissen zu verbreiten, wie es heute in der Welt der Medien und Netzwerke einfach gemacht wird. Wir stecken inmitten einer Meinungsinflation, leiden aber unter der Tatsache, dass man heute überall hin gelangen kann, sich nur das Ankommen nicht mehr lohnt. Was aber wie ein wundersamer Segen klingt, kann sich schnell in Fluch verwandeln, wenn innerhalb historischer Veröffentlichungen auf Worte wie wahrscheinlich, möglicherweise, vermutlich, vielleicht, denkbar, oder angenommen verzichtet wird. Dann ist es der Sache abträglich, denn Unterscheidung zwischen Wissen und Annahme sollte immer möglich sein. Auch die Frage aufzuwerfen, ob Varus mehr ein Opfer als ein Täter war gehört zu jenem Komplex in dem man vermutlich noch nie eine Notwendigkeit erkannte darin tiefer recherchieren zu müssen. Auf den ersten Blick erscheint es auch nicht ergiebig zu sein die Schuldfrage auch mal in andere Richtungen zu stellen, als in die des bereits designierten und scheinbar ewigen Platzhalters Varus. Aber es gehört zur Vollkommenheit einer Betrachtung und so darf man auch andere Möglichkeiten der Ursachenforschung nicht vernachlässigen. Übertrieben ausgedrückt würde die provokante Frage lauten, die ich mir selbst gestellt habe. Was, wenn Varus nur benutzt wurde um ihn als ein williges Instrument höherer imperialer Interessen zu missbrauchen gar zu opfern, oder zumindest um ihn mit offenem Ausgang in eine schwierige und außenpolitisch heikle Position zu manövrieren um ihn sich darin bewähren zu lassen. Wohl wissend, dass er es schwer haben würde, oder war sein mögliches Versagen gar schon von klugen Köpfen einkalkuliert. Zweifellos Gedanken die weit hergeholt scheinen, aber warum nicht auch mal abschweifen. Ein Sieg hat bekanntlich viele Väter, die man aber bei einer Niederlage vergeblich sucht. In unserem Fall reichte eine Person völlig aus. Und noch dazu eine, die sich später nicht mehr verteidigen konnte. Um „post mortem“ als „Advocatus Defensionis“ für Varus einzuspringen würde ich zuerst einmal Fragen, wer ihm denn den Auftrag gab im Frühjahr 9 + nach Ostwestfalen zu ziehen, denn eine derartige Entscheidung konnte damals auch ein Varus nicht allein treffen, folglich musste der Kaiser dazu seine persönliche Anweisung oder Zustimmung gegeben haben. Und wer ihn beauftragte der trug schon eine gewisse Mitverantwortung für sein tun. Der zweite Gedankenansatz setzt bei der Truppenstärke an, die man ihm mit gab bzw. über die er verfügen durfte, damit er seine Aufgabe lösen konnte bzw. Männer die man ihm unterstellte oder er sich suchte, damit er in Ostwestfalen römisches Recht einführen und die römische Ostgrenze markieren konnte. Und erst dann könnte man sich seiner persönlichen Schuldfrage widmen, ließ er eine Mitsprache an seinen Entscheidungen zu et cetera. Sicherlich besaß er hinsichtlich Zusammenstellung und Anzahl der Legionen nicht die freie Auswahl, hatte sich am personell Möglichen zu orientieren und sich nach der Vorgabe "eines" Dienstherren zu richten. Varus war in Germanien allerdings „Legatus Augusti pro praetore“ und dadurch mit weit reichenden Vollmachten und Befugnissen ausgestatteter. Er war offensichtlich alles was man damals unterhalb der Kaiserwürde so alles werden konnte. Wer wollte es da alles noch voneinander unterscheiden. War er nun Senator, Konsul, Legat, Statthalter, Befehlshaber und Vertreter des römischen Kaisers oder alles gleichzeitig. Nur der Kaiser setzte den Statthalter ein oder berief ihn ab. Aber wir wissen nicht wie es um seine Befugnisse in Krisenzeiten stand und diese Zeiten sollten im Jahre 6 + anbrechen. So wissen wir zwar anhand der Kennnummern sehr genau, welche Legionen er nach Ostwestfalen mit sich führte und auch welche Legionen sein Neffe Asprenas befehligte. Aber wir rätseln auch immer gleichsam dann, wenn wir uns mit Begriffen wie Soll - und Iststärke auseinandersetzen müssen. Wir kennen nur theoretische Größen und kein antiker Historiker nannte uns die Kopfzahl der drei Legionen. Einer Legion einen Namen zu geben bedeutet also nicht gleichzeitig auch, das man dann exakt weiß, wie viele Personen sich dahinter verbargen. Legionen waren seit jeher feste Kampfeinheiten. Aber Varus sollte in Ostwestfalen gar nicht kämpfen, keine Schlachten schlagen und folglich keine Siege einfahren. Er sollte lediglich Präsenz zeigen, eine große Landschaft besetzen, sie „römifizieren“ und die Zivilisation samt Infrastruktur in einem gerade erst befriedeten Land aufbauen, einführen und dauerhaft installieren. Truppen wie in feindlicher Umgebung in schwer bewachten Lagern massiv zu konzentrieren diente zwar der Aufrechterhaltung der Disziplin und straffen Organisation war aber in Ostwestfalen nicht das Ziel. Und es wurde der Vorgehensweise des Varus auch nicht gerecht, denn ihm war daran gelegen mithilfe seiner Legionäre viele andere Dinge anzugehen und auch in die Winkel der neuen Provinz vorzustoßen. Alle seine Legionäre an feste Örtlichkeiten zu binden schien nicht Schema seiner Grundüberzeugung zu sein. Er brauchte an der Weser sicherlich auch Soldaten, aber er bevorzugte vielleicht mehr Pioniere, Agrarexperten und Fachleute. Die Region Ostwestfalen und alles Land hatte der Feldherr Tiberius nach Cäsarenmanier vor seiner Ankunft im Zuge des Immensum Bellum bis zum Jahre 5 + unterworfen und den germanischen Widerstand teils blutig gebrochen. Paterculus überlieferte uns daher auch den denkwürdigen Satz „Nichts gab es mehr in Germanien zu besiegen, außer den Markomannen„. Varus reiste also zu einem nieder geworfenen Volk, in dem und dem der Schlachtenlärm vergangen war. Er trat auf wie ein dominanter Stellvertreter des Kaisers in die alt eingesessenen Hoheitsgebiete eines Stammes, der nach dem Flächenbrand auch vor sich selbst seine eigene Achtung verloren zu haben schien. Denn ihre Waffen verrosteten. Eine Großregion in der es aber immer noch jemanden gab, der eine unangefochtene Macht ausübte, nämlich der Germanenkönig Marbod. Aber welches Erfordernis bestand nun darin, die in Ostwestfalen komplett besiegten Germanen wieder mit waffenstarrenden Söldnermassen zu überschwemmen. Die Signale im Nethegau und an der Weser standen auf Befriedung und es gab dort für Rom nichts mehr zu kämpfen. Varus soll an sich ein ruhiger und besonnener Mann gewesen sein und so ging er es entsprechend an. Er wies daher seine Legionäre an Wege zu bewachen, Kastelle zu besetzen, die Einheimischen zu unterstützen, wo es ging und wie ich meine auch um die ersten Fundamente für eine neue Civitas zu legen. Sicherlich griff er für germanisches Verständnis oftmals zu hart durch aber aus seiner Sicht schien es unvermeidbar zu sein. Jedoch fehlte ihm das wichtige Gespür dafür zu erkennen was er anrichtete. Den Widerstand hatte Tiberius für Rom gebrochen und Varus erwartete derartiges nicht mehr schon gar nicht nach dem Vertragsabschluss. Varus wird auch als phlegmatisch und bequem beschrieben und er begnügte sich mit den Legionären, die in seinen Legionen dienten, denn im Frühjahr 7 + ging es nicht mehr darum in eine Schlacht zu ziehen. Er verlangte von seinen Legionen daher auch keine Kampfstärke unter Beweis zu stellen, es mussten nur genügend Männer sein, mit denen er das Land aufbauen und bestellen konnte. Während wir uns heute nach Polybios immer noch die Frage nach Soll - und Iststärke stellen, so mag dies für Varus zweitrangig gewesen zu sein. Hätte Varus geahnt, dass er in Ostwestfalen doch noch mal zu den Waffen greifen musste, wäre er die Sache sicherlich anders angegangen. Dann hätte er Wert auf volle Kampfbereitschaft gelegt und Risiken vermieden. Soldatische Tugenden wie Manöver, Konditionstraining um eine Schlacht zu gewinnen hätten sicherlich im Vordergrund gestanden. Was man anzweifeln muss. Dann wäre auch wieder die Kampfkraft, also die Iststärke ausschlaggebend gewesen und die friedliche Zivilisierung einer neuen Provinz wäre in den Hintergrund getreten. Kampf kennt andere Spielregeln als Befriedung und Recht schaffen. Der Krieg in Ostwestfalen war beendet. Aber wir wissen, dass Varus noch eine Schlacht bevor stand und befassen uns daher nicht nur mit dem Legionär als friedlichem Agraringenieur, sondern auch mit dem Legionär der mit Waffen umgehen konnte. Der Kampferfolg auf den historischen Schlachtfeldern der Welt war in erster Linie abhängig von der Kopfzahl der beteiligten Soldaten. Hält man diese zweifellos gering, so nimmt man jeder Truppe ihre Erfolgsaussichten auf einen Sieg und schwächt ihre Chancen einen anstehenden Kampf, eine Schlacht oder einen Krieg zu gewinnen. Aber alle diese Gedanken schienen damals in Ostwestfalen überflüssig gewesen zu sein. Im vorliegenden Fall erleben wir sogar die fahrlässige Zersplitterung der Kräfte und es war nahezu oberstes Gebot sie nicht zu konzentrieren. Man entsendete die so genannten Abstellungen in die Siedlungsgebiete der Germanen im Großraum und man teilte möglicherweise sogar den Rückmarschzug in einen zivilen und einen militärischen Teil auf womit erneut Kräfte anderweitig gebunden wurden. Oder man setzte Legionäre dafür ein um sie als Kastellbesatzung zu stationieren oder den Rohstoffabbau zu organisieren bzw. Rohstofftransporte zu begleiten. All das stellt in Friedenszeiten kein Problem dar. Aber alle diese friedlichen Szenarien werden sofort kritisch hinterfragt, wenn sich eine Lage militärisch kritisch zuspitzt um dann der Frage nach dem berühmten „Wenn und Aber“ zur Geltung zu verhelfen. Ohne seine verfehlte Politik und die daraus resultierende Niederlage, wäre Varus wie der strahlende Befrieder in die deutsche Geschichte eingegangen. Wie ein "Umarmer" gleich einem alle umarmenden Apostel hätte ihn eine ganze Region begrüßt und ihm für seine Wohltaten gedankt und in Rom wäre er für die neuen Provinzen die er in das Reich eingliederte glorreich empfangen worden. Nun aber bilden alle erdenklichen Erklärungsversuche die Grundlage um auf deren Basis sein Versagen zu begründen. So rückt die Gewichtung der beiden sich gegenüber stehenden Mächte im Jahre 9 + und deren Abschätzung, also die Germanen auf der einen und der Römer auf der anderen Seite in den Vordergrund um über die Gegenrechnung vielleicht den späteren Schlachtverlauf besser einschätzen zu können. Neben dem Wissen um seine großzügige Verteilung von Kräften im Land, bin ich aufgrund der friedlichen Mission auch davon überzeugt, dass Varus aus taktischen Motiven heraus auch den Schritt der Abtrennung in zwei Marschzüge vollzog. Dies war letztlich für ihn selbst, für alle Beteiligten, den gesamten zivilen Tross der Frauen und Kinder vor allem aber für seine umfangreiche Werteansammlung eine gute Lösung. Er stellte also einen bewachten Marschzug zusammen, der nun auf einem gut ausgebauten und schnelleren Weg von Brakel aus über Aliso direkt an die obere Lippe marschieren sollte. Besonders vor dem Hintergrund der Humanität also der Humanitas im Sinne früher Menschenfreundlichkeit gegenüber Frauen und Kindern eine gute Tat und zur Sicherung der in den Sommermonaten eingetriebenen Wertsachen eine nach vollziehbare Strategie. Es bot sich damit für den zivilen Tross die Möglichkeit einen „gefahrlosen“ Weg nahezu entgegen gesetzt zum Aufrührergebiet einzuschlagen und gleichzeitig das Land eines befreundeten bzw. vertraglich gebundenen Stammes zu nutzen. Somit konnte man allen Personengruppen einschließlich den persönlichen Interessen des Feldherrn gerecht werden. Nun aber stand Varus am Morgen des „fiktiven“ 25.09.0009 zwar noch nicht vor den Scherben seiner Fehleinschätzungen, aber er fand sich auch nur noch inmitten einer zusammen geschrumpften Kampftruppe, bestehend aus seinen Ordonnanzen und dem nötigsten Begleitpersonal wieder. Seine Truppenteile die ich wegen Schwund an Mannschaften an anderer Stelle daher nur noch Rumpflegionen nannte, sollten bzw. mussten ihm also für diese Aktion reichen. Diese Legionen waren also aufgrund meiner Theorie folglich auch nur eingeschränkt kampffähig. Segimer und Arminius waren diese näheren Umstände bekannt und sie schöpften auch daraus ihren Mut einen Angriff wagen zu können. Aber zu dieser schon bestehenden prekären Ausgangslage, also der bereits geringen Stärke der drei Varuslegionen bei Ausbruch der Varusschlacht könnten sich noch zwei weitere Gründe hinzu gesellt haben, die sich als Schlachten entscheidend erwiesen haben könnten. (11.12.2018)

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