Freitag, 10. Januar 2020
„Kalkriese“ - Was sagen die Völkerkundler
Welcher Geschichtsfreund bevorzugt nicht die harten Fakten und vernachlässigt dafür die weichen. In der Archäologie stehen daher zunächst einmal jene Funde am unteren Ende der Beliebtheitsskala, die sich einer handfesten zeitlichen Bestimmung entziehen und auch keine sichere Zugehörigkeit bzw. Zuordnung hinsichtlich Funktion oder Nutzung gestatten. Andererseits sind es aber gerade sie, die die Forschung besonders faszinieren, anspornen und inspirieren. Unsicherheit in Klarheit zu verwandeln ist das Ziel, denn sie könnten noch einiges verbergen, was sich bislang unseren Blicken entzog und was uns neue Erkenntnisse nicht nur versprechen sondern auch verschaffen könnte. Aber hier beschäftigen wir uns mit der Örtlichkeit um Kalkriese im ethnologisch geographischen Sinne. Das markante Wort „Kalkriese“ ist durch seine spektakulären Funde bereits zu einem internationalen Synonym und Begriff antiker deutscher Schlachtfelderforschung geworden. Aber es fehlt uns dazu nach wie vor das Wesentliche. Nämlich die fixe Jahreszahl, wann dort das möglicherweise legendäre Gefecht statt fand. Wüsste man es könnte man daraus weitere Schlüsse ziehen, ein neuer Kontext ließe sich erschließen, vieles wäre rekonstruierbar und eingebettet in die literarischen Fakten der antiken Historiker würde so manches plausibler werden. Aber wir vermissen eben den wichtigen zeitlichen Bezug und damit den härtesten aller Fakten um die Varusschlacht wie ich meine vom Nethegau ins Hasegau verlegen zu können. Folglich können wir auch keine tiefer gehenden und eindeutigen Schlüsse aus jenem Kampf ziehen, von dem uns nur die Bodenfunde offenbaren, dass dort einmal die Waffen ultimativ gegeneinander geschlagen wurden. Oftmals verläuft derartiges auch in die entgegen gesetzte Richtung. Dann wissen wir zwar von einem Ereignis, vermuten in groben Zügen auch die Örtlichkeit, kennen sogar den Grund der Auseinandersetzung, finden aber das dazugehörige Schlachtfeld nicht. Ein Beispiel dafür ist die weit aus größere Hunnenschlacht 451 + auf den katalaunischen Feldern. Hier haben wir es mit der umgekehrten Lage zu tun, indem wir von einer Schlacht wissen, aber das dazugehörige Schlachtfeld noch nicht gefunden haben. Im Falle dieses Blog Buches „Vom Sommerlager in den Untergang“, schwebt mir an Hand zahlreicher Hinweise und Theorien zwar der Verlauf und die Streckenführung des mehrtägigen Marschgefechtes in Ostwestfalen vor, aber die Funde bleiben aus. Wofür es allerdings auch gute Gründe gibt. Man kann sich nun aussuchen welches von beiden das Angenehmere ist. Ein Schlachtfeld mit Funden, dem der Kontext fehlt, oder ein Schlachtfeld ohne Funde, dafür aber mit Kontext. Doch zurück zu den Beweis kräftigeren, da sichtbaren Relikten, die man erst ergraben und frei pinseln musste. Abgesehen von den Bodenverfärbungen, kann man vereinfacht sagen, das alles was hart ist meist auch langlebig ist. Folglich besteht es aus Metall oder aus gesteinsartigen oder gesteinsbildenden Substanzen bzw. Mineralstoffen wie Glas, Porzellan aber auch Knochen. Während sich die weichere Biomasse schneller zersetzte und über die Jahrtausende verging oder sich verflüchtigte, kann sich Metall auch noch im verklumpten Zustand, genauso wie Knochen aber auch organisches Material bei optimalem ph-Wert länger im Boden erhalten. Daher kommt auch den noch in Spuren vorhandenen, weil daran anhaftenden Begleitelementen bei der zeitlichen Bestimmung des Objektes eine Bedeutung zu. Da uns zudem auch keine schriftlichen Zeugnisse darüber bekannt sind was dort passiert ist und was uns die Geschehnisse an jenem „Riesen aus Kalk“ erklären helfen könnte, bleibt es ein Buch an dem noch alle sieben Siegel so gut wie unbeschädigt sind. Die Vorgehensweise ist der Wissenschaft verpflichtet und die Archäologie muss es so handhaben. So sind zwar die Prioritäten gesetzt, aber viele andere und nicht weniger interessante Betrachtungsfelder bleiben leider zu oft auf der Strecke oder werden unterschwellig gesehen meines Erachtens zu wenig in die Deutung mit einbezogen. Den Begriff „Fakt“ was seine Zielrichtung anbelangt zu definieren wäre abendfüllend, ich möchte es daher vereinfachen. Wir haben also diese harten Fakten, sowie die weichen Fakten die noch auf ihre Deutung warten, aber auch noch die „butterweichen“ Fakten. Und sie verbergen sich hinter den Seelen der Spezies „Mensch“, also hinter unseres gleichen. Blättert man in den Büchern der älteren oder klassischen Literatur wird einem schnell bewusst, dass wir uns in den letzten 2000 Jahren und noch weit darüber hinaus im Wesen nicht grundlegend verändert haben. Es ist das Spiel der Ewigkeit. Tugenden waren immer schon Mangelware, aber auch der Zwang in Notlagen zusammen halten zu müssen sitzt tief und lässt die Menschen wieder auf sich zugehen. Wir kennen das. Diese kurz eingeschobenen Kapitel sollen aber einen vorsichtigen Beitrag dazu leisten in dem sie einen kleinen Teil dessen aufzeigen könnten, der uns verloren gehen kann, wenn wir unsere Gedanken in Bezug auf die Vorgeschichte und den möglichen Hergang der Schlacht bei Kalkriese nicht den freien Kräften unserer Visionen überlassen. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt formulierte es einmal sehr drastisch mit den Worten: "Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen", was zweifellos wie ein abfälliges Totschlagargument gegen das Intuitive und das Vorstellungsvermögen aller Visionisten unserer Zeit klingt. Er mag vielleicht Recht gehabt haben, aber hier sind ausnahmsweise einmal nicht jene für gewöhnlich in die Zukunft gerichteten Visionen gemeint. Hier geht es darum unseren Blick zurück in die ferne Vergangenheit zu werfen. Die Zeit aus der wir kommen und nicht die, wo wir hingehen möchten. Denn auch das ist Vision. Da ein Lichtstrahl ebenso schnell vergeht wie er in dem kurzen Moment auch sehr erhellend wirken kann, müssen wir uns auch dafür einen offenen Geist bewahren. Am Anfang sah doch alles so einfach aus, denn nichts war robuster als die scheinbar harten Fakten die uns die im 19. Jahrhundert bei Barenau entdeckten und später verschollenen augusteischen Münzschätze versprachen. Man brauchte also nur an Theodor Mommsen und andere seiner Zeitgeister fest glauben und schon konnte der „Fall Varusschlacht“ zu den Akten gelegt werden. Aber das Gläubige vertrug sich noch nie mit dem Forschenden und erst recht nicht mit dem Wissenden. Aber derzeit steckt eben genau dieser forschende Aspekt etwas in einer Sackgasse fest. Und zu allem Überfluss schwindet nun auch noch der Glaube daran, in Kalkriese jemals auf das zu stoßen, was uns eine dauerhafte Gewissheit garantiert. Wir hätten es sozusagen mit einem doppelten Dilemma zu tun, wenn uns nicht noch die Hoffnung bleiben würde. Aber wonach suchen wir eigentlich in Kalkriese. Letztlich wünschen wir uns doch ein menschliches Skelett zu finden, das alles enthält wonach uns der Sinn steht. Dieses Skelett eines Verstorbenen hätte zweierlei Bedingungen zu erfüllen. Es muss zweifelsfrei von einem Menschen stammen der einmal bei einer der drei unter gegangenen Varuslegionen gedient hat also ihnen zugeordnet werden kann. Keinem Auxiliarkelten oder Germanen und auch keinem freien also gegnerischen Germanen. Und man müsste dann an ihm noch militärisch also gattungsbezogene Identifikationsmerkmale folglich Ausrüstungsteile gleich welcher Art ausfindig machen können. Eine Kennung zum Beispiel für die „LEG XIX COH II“ zu finden wäre also das Mindeste bzw. das ultimative Muss. Noch besser wäre vielleicht der Fund eines Signaculum, dass man in diesen Zeiten in einem Lederbeutel um den Hals trug. Ein reizvolles Objekt, das ein Germane allerdings als begehrte Trophäe schnell an sich genommen hätte und wohl auch hat. Damit wäre man schon einen großen Schritt weiter. Aber damit nicht genug, denn diesem Skelett müsste man zudem auch noch DNA fähige Bestandteile wie etwa Knochenmark entnehmen können, womit sich der Todeszeitpunkt zurück verfolgen ließe. Und dieser Zeitpunkt muss darüberhinaus noch eine jahresgenaue Zuordnung erlauben. Dann noch einen auswertbaren Baumstamm mit Jahresringen in seiner unmittelbaren Nähe zu finden mit dem sich dann tunlichst alles noch auf den Herbst des Jahres 9 + datieren ließe und wir hätten das Ziel erreicht. Denn dann erst wüssten wir genau, dass das Gefecht auch im Zusammenhang mit der Varusschlacht stand oder die Varusschlacht war. Ein ideales Zusammentreffen vieler Träume, das wohl nie in Erfüllung gehen dürfte. In der Folge würden uns schon DNA fähige Substanzen, gleich wo wir sie fänden erfreuen, Hauptsache sie ließen sich dem Herbst 9 + zuordnen. Aber dann würde uns möglicherweise wieder der Bezug zu einer Varus Legion fehlen und es ginge nur der halbe Traum in Erfüllung. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als das stete Sammeln jeglicher Indizien gleich wo sie sich finden lassen, munter fort zu setzen. Ein Schauprozess würde sich auf diese Weise in einen Indizienprozess verwandeln und was für das Gefecht bei Kalkriese gilt, träfe auch auf die Varusschlacht im Nethegau zu. Was uns aber bei der „Nethegau – Theorie“ entgegen kommt ist der schlüssige Gesamtkontext, den man in Kalkriese selbst beim besten Willen nicht erkennen kann. Aber bei aller Tristesse, denn ohne sich entmutigen zu lassen, sollte doch sowohl die Suche als auch das Kombinieren und Jonglieren in alle Richtungen unvermindert weiter gehen. Vielleicht sind neue Formen der Herangehensweise gefragt, wobei aber der Mensch der damaligen Zeit immer im Mittelpunkt zu stehen hat. Ohne über die für die Forschung nötigen Geldmittel zu philosophieren gehört zu alledem das permanente Aufgreifen neuer Ideen auch Brainstorming genannt, die Schlachtenanalytik also das Profiling, die übersichtliche Gestaltung via Flipchart, oder das Ordnen und Vernetzen von Fragen auch Clustering genannt um zumindest unser theoretisches Wissen zu bündeln. Eben das ganze Spektrum der Kreativtechnik. All dies scheint in Kalkriese bislang zu kurz gekommen zu sein. Daraus entwickelte sich ein Manko, aus dem wegen einer zu frühen Festlegung ein Versäumnis wurde, das aufgrund einer zu stark fund - archäologisch orientierten und darauf fixierten Fachwelt eine zu lastige Ausrichtung erfuhr. Viele kleine und größere Schlachtfeldfunde füllen inzwischen die Vitrinen und Ausstellungsräume des Kalkrieser Museums, aber man wähnt sich nach 32 Jahren Entdeckungsgeschichte als auch Tony Clunn auf die ersten augusteischen Münzen stieß, immer noch wie am Anfang. Was meine Hypothese zum Verlauf der Varusschlacht, also „Vom Sommerlager in den Untergang“ anbelangt, so möchte ich daran nicht rütteln, da zu viele Fakten für die „Nethegau – Theorie“ sprechen. Aber alle diskutierten Alternativen dazu völlig auszublenden wäre natürlich töricht und unentschuldbar zugleich. Diesen Vorwurf möchte man sich nicht einhandeln. Über ein immer noch, wenn auch in die Ferne gerücktes denkbares Varus orientiertes Schlachtenszenario an anderer Stelle den frühen Stab der Unmöglichkeit zu brechen griffe genauso zu kurz, wie die statt gefundene zu schnelle Festlegung. Man muss sich also auch die Freiheit nehmen den Versuch zu wagen anderen Thesen auf den Grund zu gehen um auch dort nach möglichen Alternativen Ausschau zu halten. Und dazu gehören natürlich auch andere mögliche Ereignisstätten im Großraum NRW/Niedersachsen. In Kalkriese lassen sie sich anhand von Funden ausmachen und man stellt sie zur Diskussion. Soweit mein Plädoyer für eine offene Strategie der Forschungslandschaft die unter der einstigen Vorgehensweise etwas gelitten hat. Aber der Frust darüber, dass zu befürchten ist, dass die Funde nie für eine klärende Endaussage reichen werden wiegt mehr und scheint derzeit unübersehbar den Optimismus etwas einzudämmen. Denn einmal in Erklärungsnöte geraten sieht man gerne den Wald vor lauter Römern, pardon Bäumen nicht mehr. In diesem Abschnitt möchte ich daher das ungeliebte Kapitel der unabwägbaren Gegebenheiten, also das der Imponderabilien breiter aufschlagen um das Interesse an neuen Überlegungen und eben auch Visionen zu wecken. So war es im Ringen um die beweissicheren Argumente immer schon ein wesentlicher Bestandteil meiner Methodik und des Aufbaus dieses „Blog – Buches“ mehrere Sichtweisen die auch gegen- und wechselseitig, also in sich konträr wirken dürfen anzustrengen, um sie parallel zu bewerten, damit man sich daraus resultierend einer möglichen Lösung im Sinne einer Indizienverdichtung besser annähern kann. So ging man zum Beispiel sehr wenig bis gar nicht einer, mit der Schlacht sehr eng verbundenen Frage nach. Nämlich der, in welchem germanischen Stammesgebiet sich die Schlacht am Kalkrieser Berg überhaupt zutrug. So sollte es doch Grundpfeiler jeglicher Herangehensweise sein, sich zuerst einmal eine Vorstellung darüber zu machen, wer denn das Land überhaupt besaß und es damals besiedelt hatte, von dem alle Welt spricht, wenn von der vermeintlichen Varusschlacht am Kalkrieser Berg die Rede ist. Und man sollte folglich der Frage nachgehen, wie es auch das alte Wort „angestammt“ so schön zum Ausdruck bringt, welcher Stamm also dort sein angestammtes Hausrecht ausgeübt haben könnte. So ist es doch naturgemäß nahe liegend, dass auch diese Germanen um deren Grund und Boden es letztlich gegangen ist und auf deren Scholle sich das Gefecht vollzog, noch vor allen anderen in den Verdacht geraten müssten, auch daran beteiligt gewesen zu sein. Von den dortigen Geschehnissen gleich welcher Art sie waren, sie müssen unmittelbar davon betroffen gewesen sein, denn es berührte und beeinflusste ihre Lebensbedingungen. Und sie wären es auch gewesen, die nach römischer Denkweise das erste Opfer einer späteren Vergeltungsaktion geworden wären, da sie dem Schlachtengelände als der nächst liegende Germanenstamm anwohnten. In der Regel sollte man auch davon ausgehen, dass in Friedenszeiten und die Jahre 17 + und 18 + könnte man bereits als solche einstufen können, größere Zugbewegungen zuvor mit den ansässigen Völkern abgestimmt und sich ein Wegerecht gesichert wurde. Die römische Kavallerie imposant im Aussehen, sollte also Sondierungsritte angestrengt haben auch um den Wegezustand zu erkunden, sie dürften aber auch Kontakte zu den Anwohnern aufgenommen haben. Genau diese Dinge eben, die man damals auch von Varus erwartet hätte, die er aber wohl unterließ. Ließe sich die Varusschlacht mit dem Gefecht bei Kalkriese vergleichen, würde man sich auch hier die Frage stellen, ob man dem Lösegeldkonvoi nicht auch eine Warnung vor einer möglichen Gefahr zu kommen ließ, wie es einst auch angeblich Segestes Varus gegenüber getan haben soll. Diese Hypothese würde allerdings in einen Wust von Szenarien münden und man sollte sich nicht darin vertiefen. Ob der Lösegeldkonvoi der zu den Angrivariern unterwegs war also in ähnlicher Weise nichts ahnend in seinen Untergang zog, lässt man also tunlichst offen. Da ein Sieger keine Werte auf dem Schlachtfeld zurück lässt, kann man davon ausgehen, dass der Punktsieg von Kalkriese eindeutig an die Adresse der Germanen ging. Bei etwas veränderten Vorzeichen ließe sich hinter dem Gefecht bei Kalkriese auch der kleine Bruder der Varusschlacht erkennen, denn auch hier könnte die Reihenfolge „Überfall folgt auf Hinterhalt“ gestimmt haben. Die Niewedder Senke befand sich, da sie am nördlichen Rand des Wiehengebirges lag, im ureigenen Siedlungsgebiet der dort ansässigen „Sumpfland“ Germanen. Dort, wo diese ihre Tiere züchteten und ihre Plaggenäcker bestellten, es war eben ihr Land, dass sie sich vielleicht sogar einst erkämpften oder das sie sich von der Natur abtrotzen und urbar machen mussten. Waren es noch dazu militärische Ereignisse und als solches könnte man auch den Lösegeldtransport ansprechen, so musste auch ihre besondere Wachsamkeit geweckt worden sein. Ob es sich also um den durch ziehenden Marschzug eines feindlichen Volkes, oder um die Handlungen eines befreundetes Stammes handelte, war zunächst mal nebensächlich, denn das Gebiet hatte schon einen Eigentümer der in Kenntnis gesetzt sein und der gefragt werden wollte. Man durchstreifte grundsätzlich und zu keiner Zeit Waffen tragend, hoch zu Ross und ohne vorherige Abstimmung fremde Ländereien und darin wird man vor 2000 Jahren genauso kleinlich gewesen sein, wie heute, wo bereits Luftraumverletzungen diplomatische Verstimmung auslösen können. Es sei denn man konnte sich dank kraftstrotzender römischer Dominanz immer noch nach alter imperialer Gepflogenheit und in gewohnt überheblicher Manier darüber hinweg setzen. Moore, Bannwälder, geologische Landmarken oder Gebirgskämme waren in jener Zeit die von der Natur seit uralten Zeiten gesetzten und vor gegebenen Grenzen der Stämme untereinander. Und auch wenn ein besonders fruchtbarer Landstrich immer umkämpft war, so musste man sich doch irgendwann einmal verständigt haben um sich zu arrangieren. Aber in den Niederungen waren es die Flussläufe mit ihren weitläufigen sumpfigen Einzugsgebieten und den verzweigten Altarmen, denen die größere Bedeutung bei der Grenzregelung und Findung zu kam. Je breiter und unüberwindlicher und unzugänglicher diese Landschaften waren, um so stärker und komplexer machte sich ihre trennende Wirkung bemerkbar. Im Betrachtungsraum sind dies vor allem die Flüsse Weser und Ems mit ihren Verästelungen. Aber den beiden kleineren dazwischen liegenden und langsam fließenden Flachlandflüssen Hunte und Hase gehört unsere Aufmerksamkeit, denn auch sie dürften für die Ziehung der Stammesgrenzen mit maßgebend gewesen sein. Und wie wir wissen konnten es sogar schon kleine Bäche sein, denen eine wichtige „deilende“ Funktion zukam, so wie etwa der von Süden nach Norden fließende Deilbach nördlich von Wuppertal und der in die Ruhr entwässert. Der einst das Rheinland von Westfalen, aber auch mal Franken von Sachsen und möglicherweise auch schon Römer von Germanen trennte und heutzutage ein beliebtes Naherholungsgebiet ist. Da man den einen der beiden Flüsse, die Hunte als den westlichen Grenzfluss eines angrivarischen Siedlungsgebietes einstufen könnte, die Ems aber in diesem Abschnitt bereits zum Stammesgebiet der Ampsivarier gezählt wird, galt es die Besiedelungszonen im Winkel zwischen Hunte, Hase und Ems stammeshistorisch zu definieren. Da die Hase nur etwa acht Kilometer nordwestlich an Kalkriese vorbei fließt wird aus linguistischen Gründen angenommen, dass sich in diesem Raum einst die Wohngebiete der germanischen Chasuarier befanden und wenn genetisch nachweisbar auch heute noch deren Nachkommen. Einem Stamm dem man schon oder immer noch seinen unmittelbaren namentlichen Bezug zum Flüsschen Hase entnehmen kann. Ein germanischer Stammesname der uns auch in der Schreibweise Chasuaren, Hasuaren, Hasuarier und auf der verzerrten Karte des Claudius Ptolemäus als Casuary begegnet. Aber auch ein Name der sich in zwei Bestandteile zerlegen lässt. Dem Namensbestandteil „Warier“ begegnen wir häufiger. Es umfasst den gesamten Stamm, so wie es auch im Namen der Angrivarier oder der Ampsivarier zum Ausdruck kommt. So wurden bei der Namensfindung eines Stammes oftmals Bezüge hergestellt die sich an einen Fluß anlehnen, der durch ihr Siedlungsgebiet fließt. In etwa im Sinne von, die Leute an der Ems oder die von der Hase. Die Chasuarier der in der dortigen Region siedelnde Germanenstamm wurde wie der der Angrivarier auch nicht im Zusammenhang mit den Rachefeldzügen des Germanicus erwähnt. Auch römische Vergeltungskämpfe unter Germanicus gegen die Ampsivarier sind nicht bekannt geworden. Im Gegensatz zu den „nach varianischen“ Rachefeldzügen unter Germanicus gegen Chatten, Cherusker, Marser und Brukterer sind uns aus der Region nördlich des Kalkrieser Berges folglich keine zornigen Strafmaßnahmen des Imperiums, also Aktionen gegen die Stämme aus der Gegend um den Kalkrieser Berg dokumentiert. Als ein vereinfachtes Fazit könnte man also auch sagen, dass keine Varusschlacht am Kalkrieser Berg statt fand, da von Germanicus gegen die dortigen Stämme keine Rachefeldzüge bekannt geworden sind. Und die dortigen Stämme sind auch nicht als kriegerische Bündnispartner des Imperiums schriftlich in Erscheinung getreten. Lediglich die Episode um Arminius und den Ampsivarier Boiocalus lässt noch rätseln, wie weit die Spaltung dieses Stammes in Rom treu und Arminius treu gegangen sein könnte. Aber in diesem Zusammenhang gibt es noch einen weiteren Aspekt, auf den ich noch in einem anderen Kapitel eingehen werde. Die Siedlungsgebiete der besagten Chasuarier befanden sich also nicht in der völlig unerreichbaren Abgeschiedenheit der ausgedehnten norddeutschen Marsch- und Moorlandschaften, sondern säumten eine dort verlaufende und sicherlich häufig genutzte und sehr wichtige prähistorische Heer- und Handelsstraße und standen dadurch sozusagen unmittelbar mit dem tagesaktuellen Zivilisationsgeschehen in Verbindung. Vom einfachen Viehtrieb bis hin zum Transport von Handelsgütern als auch den Militärzügen müsste für sie das für damalige Verhältnisse quirlige Treiben ein gewohnter Anblick gewesen sein. Sie waren die Anrainer jener Verkehrsachse und betrachteten sich indirekt oder gewissermaßen vielleicht auch als die Bewacher, Herren oder Beschützer dieser bedeutsamen Lebensader, soweit sie ihr Siedlungsgebiet tangierte. Ihr Schicksal war eng damit verbunden und sie entschieden letztlich auch welchen Verlauf die Straße nahm oder nehmen sollte, konnten ihn daher auch geschickt beeinflussen, stellten aber nach Regen oder Frostphasen möglicherweise auch die Begehbarkeit wieder her und konnten diese dann aus taktischen Gründen bei Bedarf natürlich jederzeit auch behindern, also sperren und unterbrechen. Die Straße verlieh ihnen Macht und Einfluss den sie beim Warenverkehr nutzen konnten. Sie wachten als die Herrscher über den Kalkrieser Pass und diese Lage brachte sie in eine sensible aber damit verbunden auch verwundbare Position zugleich. (10.01.2020)

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