Montag, 10. Februar 2020
Das Phänomen der „toten Augen von Kalkriese“
Der erst unlängst kreierte Begriff der „Schlachtfeldforschung“, der Archäologie des Krieges, also die umfassende Analyse von Auseinandersetzungen die in altertümlicher Zeit statt fanden, erlebte seine Geburts - oder Sternstunde im Zuge der Ausgrabungen nördlich des Kalkrieser Berges. Aber bei genauem Hinsehen war es eigentlich nur eine Wiedergeburt unter modernen Gesichtspunkten, denn man wollte vielleicht seit Herodot immer schon wissen wie eine Schlacht ihren Anfang nahm, wie sie verlief und warum sie so und nicht anders endete. So wird auf Schlachtfeldern mehr oder weniger wissenschaftlich schon länger geforscht, gegraben und die Schlachtverläufe beschrieben. Mit der Zunahme verbesserter Techniken und Methoden gelingen jedoch heute Rekonstruktionen und Fundbewertungen wie sie früher nicht denkbar waren. So wendete man auf Basis zeitgemäßer Möglichkeiten vieles auch schon früher an, war aber weniger am Verlauf, als an den Funden interessiert. So möchte man es auch heutzutage neu definiert wissen, dem Schatzgräbertum entgegen wirken und die wissenschaftliche Bedeutung hervor heben. Ein Forschungszweig der sich bislang mehr auf die Schlachtfelder der Neuzeit bezog sollte sich nun stärker zur Antike hin öffnen. Und obwohl sich die Bezeichnung Antike nur auf den Mittelmeerraum und das Reich der Römer bezieht, lassen wir es hier auch mal für Kalkriese stehen. Er wurde als eine sinnvolle Sparte der Archäologie anerkannt und unter optimierten Vorzeichen ins Leben gerufen. In der festen Annahme bei Kalkriese auf die Hinterlassenschaften von Varus und seinen Mannen gestoßen zu sein war die Euphorie anfänglich groß, musste dann aber bekanntlich einer eher nüchternen Denkweise weichen, da der umfängliche Kontext später vieles infrage stellte. Aber ungeachtet dessen bietet uns die dortige „Asservatenkammer“ der frühgeschichtlichen Forschung eine Fülle interessanter Objekte wie sie auf deutschem Boden nicht ihres Gleichen findet. Ein verlockend reichhaltiges Betätigungsfeld und dies noch für viele Jahre lässt noch auf manche Überraschung hoffen. Die Schlacht östlich von Bramsche und unbenommen, wie viel Männer beider Seiten dort kämpften oder starben hinterließ uns neben dem Fundkomplex Dottenbichl in Oberbayern wo 15 – Kelten und Römer aufeinander trafen, dass erste Untersuchungsgebiet einer römerzeitlichen Auseinandersetzung mit unseren anderen Vorfahren nämlich den Germanen. Wobei unsere germanischen Altvorderen auf uns in dem Gefecht bei Kalkriese wie eine Schattenarmee wirken da sich ihre Anwesenheit im Fundspektrum bis auf wenige abseitig gemachte Holzwaffenfunde kaum bemerkbar macht. Aber wer sollte in Kalkriese schon gegen Rom gekämpft haben, wenn nicht die germanischen Stämme der Region wie Chasuvarier, Ampsivarier oder Angrivarier, die keine endlos langen Märsche zurück legen mussten um sich am Kampf beteiligen zu können. Der Fundkomplex der Schlacht bei Kalkriese stellt ein Novum dar, denn er stand ganz am Anfang unserer Zeitrechnung. Die Schlacht war folglich militärisch betrachtet, der erste Wimpernschlag im frühen ersten Millenium und sie hinterließ bis heute sichtbare Spuren. Zurück greifend bis ins fiktive Jahr Null und noch lange danach findet sich im germanischen Deutschland, einer Region in der sich ältere keltische Nachweise im Zusammenhang mit den Fliehburgen nur minimal aufspüren und nachweisen lassen und daher oft nur Spekulation vorherrscht, nichts vergleichbares. Ebenso rar sind auch schlachtenbezogene Entdeckungen im keltisch/germanischen Mischgebiet in das erstmals Cäsar seinen römischen Fuß setzte. Und einmal abgesehen von der ersten römisch - rätischen Schlacht am Rande der Alpen, dem  Gefecht am Dottenbichl an der Ammer, wo ebenfalls bedeutsame Funde gemacht werden konnten, verliefen alle anderen uns historisch überlieferten Kampfereignisse der „Schriftlosen“ gegen die „Supermacht“ nahezu spurlos. Und erst wieder das „Harzhorn Ereignis“ zu dem es im 3. Jhdt. kam brachte Auswertbares zutage. Mit der vorsichtigen Analyse der Relikte und Artefakte von Kalkriese betritt die aktuelle Archäologie in vielerlei Hinsicht Neuland. So wirft mancher Fund zwangsläufig wieder neue Fragen auf, zieht weitere Forschungen nach sich und bringt uns dazu ältere Erkenntnisse neu auf den Prüfstand zu stellen. Ein nötiger Prozess dem sich scheinbar manche ungern stellen wollen, weil sie am lieb gewonnenen festhalten möchten. Bis Ende 16 + konnten sich die Legionäre in Germanien samt ihren Anführern und dem Zivilpersonal noch nach freien Stücken relativ ungezwungen und gefahrlos entfalten. Man konnte nach Belieben und Erfordernis Kastelle anlegen, die nötige Anzahl Schiffe bauen und unterschiedlichste Formen von Logistik hinterlassen. Erst an Egge und Weser wo Rom auf ernsthafte Gegenwehr stoßen sollte, stellte man dem Imperium ein Stoppschild auf. Da die durchgreifenden militärischen Erfolge auf römischer Seite auch nach rund dreißig Jahren immer noch ausblieben, alles immense Mittel verschlang und der Zermürbungskrieg seinen Tribut forderte, wurde in der Folgezeit der Wirkungskreis der römischen Armee von Kaiser Tiberius tiefgreifend und maßgeblich beschnitten und eingeschränkt. Da bis dato alle Großschlachten geschlagen waren, verlagerten sich die konfliktträchtigen Regionen Germaniens zunehmend rückwärtig zum Rhein, Landschaften die sich die Germanen wieder zurück erobert hatten und für sich beanspruchten. Die westlichen Ausläufer des Wiehengebirges lagen aber möglicherweise noch innerhalb einer römischen Interessenssphäre in der eine gewisse imperiale Dominanz auch noch nach 16 + spürbar und denkbar war und wo man sie durch die Entfaltung von Aktivitäten und Präsenz zum Ausdruck brachte. Welche Vorsicht man hier in dieser noch beanspruchten Übergangszone römischerseits walten ließ ist nicht abschätzbar, aber der Vorhof des Imperiums ließ dort noch überschaubare Machtdemonstrationen zu. Zumal die dortigen Stämme der römischen Landnahme nicht mit der Effizienz und Vehemenz entgegen treten konnten, wie dies in Wesernähe geschah. Begrenzter Handel bewegte sich dort auch nach 16 + immer noch im Rahmen des möglichen und war vorstellbar, aber auch kleinere Strafmaßnahmen können nicht ausgeschlossen werden, wenn man sie im Xantener Hauptquartier für erforderlich erachtete. Ebenso sind schnelle Kommandoaktionen denkbar, wenn man in germanische Siedlungen aufbrechen musste, da sich dort Widerstand zusammen braute bzw. im Entstehen begriffen war. Aber auch innergermanische Stammesfehden könnten Hilfeersuche an die römischen Kommandeure am Rhein ausgelöst haben, denen man vielleicht sogar gerne nach kam. Musste man je nach Zielsetzung und Auftrag auch Wertgegenstände durch die germanischen Lande transportieren, geschah dies selbstverständlich unter Mitführung einer angemessenen Bewachung und Begleittruppe. Aber wo sollte man die Gründe für die Notwendigkeit schützenswerter Überlandtransporte für die ein Schutz erforderlich war suchen. Und das in einer Zeit in der es angeraten war die germanischen Territorien zu meiden. Wollte man strategisch wichtige germanische Oberhäupter bestechen um sie sich Gefügig zu machen, sich also auf diesem Wege neue Bündnispartner erkaufen. Wollte man gegen Vorauskasse Verträge für die Lieferung von Fellen, Vieh, Sklaven oder erzhaltiger Rohstoffe schließen. Alles ist denkbar aber eben auch der Gefangenenaustausch, der ja letztlich auch irgendwo statt gefunden haben musste. Es sind Grundpfeiler meiner Annahme, wonach es auch noch nach dem Jahr 16 + Gründe gab, sich über den Rhein hinaus ins germanische Landesinnere zu begeben. Denn die östlichen Regionen in Rheinnähe bildeten auch den wichtigen Speckgürtel, von wo aus nach Möglichkeit auch die römischen Rheingarnisonen mit versorgt werden konnten oder mussten. Denn so ließen sich die Germanen auch in eine strategisch gewollte Abhängigkeit locken. Dass das Unternehmen „Gefangenenaustausch“ in Kalkriese scheiterte, also nicht nach Plan verlief und in besagter Katastrophe endete, sah die römische Regieführung nicht vor. Denn man hatte sich einen fairen und reibungslosen Handel ohne böse Absichten erhofft. Aber uns bescherte das unerwartete Ereignis, vielleicht sogar das Missverständnis viele neue Erkenntnisse in Form aufregender Bodenfunde. Das Gemetzel führte unweigerlich dazu, dass einiges im Boden zurück bleiben musste. Am Kalkrieser Berg fanden sich neben den Metallresten die insgesamt zehn Augurenstäben zugeordnet werden konnten und den Kleinteilen militärischen Ursprungs auch noch zahlreiche Münzen. Aber es fanden sich auch noch Relikte, die hochwertiger Natur waren wie es die teilweise ausgegrabenen vergoldeten Silberbleche beweisen. Aber nicht nur das, denn es waren noch weitere interessante Dinge darunter. Gegenstände die den hohen technologischen Wissensstand der römischen Handwerkskunst und das schon im ersten Jahrzehnt nach der Zeitenwende wider spiegelten und sie unter Beweis stellen. Hochwertige Teile die schon einen weiten Weg hinter sich hatten und die unsere Forschung um diese frühe Zeit in Kalkriese, weit ab vom nächsten Flusshafen noch nicht auf dem Schirm bzw. erwartet hatte. Objekte wie man sie in so früher Zeit noch gar nicht in den römischen Militärstützpunkten Germaniens und auch nicht in Köln produzieren konnte. So musste man sie aus dem Süden über hunderte von Kilometern bis nach Westfalen transportiert haben. Es waren eben jene kleinen nur wenige Zentimeter großen Scherbchen aus Glas. Sie fanden sich plötzlich nicht nur in den wehrhaft ausgebauten Palisadenlagern an der Lippe, am Oberrhein oder in Xanten, sondern sogar relativ weit im Nordosten nämlich bei Kalkriese. Da wo sich hinter den Mittelgebirgen die trostlose Moorlandlandschaft auszubreiten begann und die schaurigen Grenzen zur Unwirtlichkeit verliefen. Eine urtümliche Landschaft deren biologische Ausstattung wir uns heute kaum noch vorstellen können und in der Menschen nur leben können, wenn sie dort geboren wurden und jeden Römer schaudern ließen. Aber Glas ist ein Material, dass neben sehr vielen positiven Eigenschaften auch eine negative hat, es ist zerbrechlich, will daher nicht gerne transportiert werden und schon gar nicht über Land. Jegliche rechtsrheinischen Funde von Objekten aus Glas lassen uns in dieser frühen Zeit grundsätzlich aufhorchen und sind aus mehrerlei Gründen merkwürdig. Zum einen, weil man sich in dieser frühen Stunde fragen muss, ob sich die raue germanische Wirklichkeit schon mit der römischen Leichtlebigkeit auf Basis derartiger Funde vertrug und hochwertige Produkte in einem Lande auf unterer Kulturstufe überhaupt einen Sinn ergaben. Und das zumal um diese frühe Zeit insgesamt betrachtet die römische Glasproduktion nördlich der Alpen noch selbst in ihren Anfängen steckte. Und nun fanden sich derart hochwertige Teile farbigen Glases zudem noch in einer Zone am Rande der germanischen Diaspora. Was zum Teufel sollte die Römer veranlasst haben derartigen Aufwand zu treiben um solche bunten und künstlich hergestellten Stücke bis zum Venner Moor zu transportieren, möchte man da ausrufen. Und so muss man sich natürlich eine Reihe von Fragen stellen, will man sich diesem Phänomen nähern um es sich zu erklären. Möchte man sich damit auseinander setzen, können natürlich diverse Theorien aufgestellt und Methoden der Herangehensweise ausgearbeitet werden was auch gegenwärtig ausgiebig in Kolloquien etc. geschieht. Wie und auf welchem Weg kamen die Glasscherben besser gesagt die einstigen Fertigprodukte nach Kalkriese. Wo wurden sie produziert, wer benutzte sie, wo sollten sie irgendwann einmal benutzt werden, wo also befand sich ihr Zielort. Gingen die Teile in Kalkriese aus purer Zerstörungswut zu Bruch, stürzte der Karren um auf dem man sie transportierte. Oder wurden sie bewusst zerbrochen, bzw. waren es Trinkgefäße, die wenn man an die Zechtradition denkt nach Benutzung zerstört werden. Was also daraus spricht und was die Archäologie und Geschichtsforschung nicht minder interessiert ist die Frage von welchem einst unzerstörten Ausgangsobjekt die gläsernen Kleinteile stammten, wozu sie passten und woran sie einst befestigt waren, welche Funktion dieses Gesamtobjekt einst hatte und aus welcher Manufaktur es stammte bzw. wo man damals schon imstande war, solche Dinge herzustellen. Da alle Fragen eng ineinander greifen wird es komplex. Aber Geschichte ist immer Menschen gemacht und so ist oft schon die einfache Erklärung die richtige. Denn auch bei diesen Glasscherben könnte es sich durchaus auch nur um die Reste völlig normaler Gegenstände des Alltags gehandelt haben. So waren es vielleicht nur Kleinstteile einst voluminöser Objekte die auch schon einen größeren Verbreitungsraum besaßen als man gemein hin annimmt. Produkte also, die damals schon fasst auf dem Weg zur Massenware waren, auch wenn sie man sie noch nicht im Norden produzieren konnte und sich die Wissenschaft mangels Funden selbst zum Spekulieren gezwungen sieht. So wir wissen von Strabo aus seiner Geographica XV1.2, dass man zu seinen Lebzeiten, er starb nach 23 + schon einen gläsernen Trinkbecher für eine Kupfermünze kaufen konnte. Und Glas lag also auch, bzw. schon im Boden auf dem Oberesch bei Kalkriese, was allerdings nichts über den Zeitpunkt aussagt, wann es dort unter die Erde gelangte. Da derartige augenartige Scherben bis auf die zivil geprägte Stadt Augusta Raurica bislang ausschließlich in römischen Militärlagern an der Lippe und in Xanten zu Tage traten, wird man nicht ganz umhin kommen, auch noch mal die Überlegung aufgreifen zu müssen, ob die Glasscherben nicht schon zu Boden gefallen waren, als die Kämpfe bei Kalkriese noch gar nicht statt gefunden hatten. Ebenso muss man die Möglichkeit ins Auge fassen, dass die Scherben nicht in den Schlachtenkontext gehören, da die Objekte dort erst viele Jahre nach der Schlacht zu Bruch gegangen sein könnten. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall müsste man die Glasscherbenfunde völlig vom Schlachtengeschehen lösen und separat betrachten. Dies wiederum gibt den Blick auf das dort ergrabene römische Kleinkastell und deren einstige Funktion und Bedeutung frei. Denn eine Umwallung deren mögliche Innenstrukturen noch nicht erforscht sind und deren Dimension und Alter ebenfalls im Dunklen liegt bleibt ein potenziell geeigneter Platz um darin oder in der Umgebung auch noch auf ältere Benutzungsspuren aber auch Hinweise zu stoßen, dass es schon viele Jahre früher genutzt wurde. Die ovalen gläsernen und farbigen Bruchstücke wie sie dort gefunden wurden und die etwa zwischen fünf und neun Zentimeter lang sind, könnten also theoretisch betrachtet auch schon einige Jahre vor, als auch nach der Schlacht bei Kalkriese in den Erdboden gelangt sein, wo sie dann über die Jahrhunderte hinweg regelmäßig überpflügt wurden und sich ihr Fundort seitlich verlagert bzw. nach oben verschoben hat. Gleiches gilt für die Millefiori Glasreste. Unbrauchbar gewordene Trümmerteilchen die gleich wann sie in den Boden gelangten vermutlich auch unter den Germanen kein Interesse mehr weckten und daher liegen blieben. Verlassen wir diese Hypothese und halten uns wieder daran fest, dass alle aufgefundenen Glasteile erst im Zuge des Kampfgetümmels von größeren Teilen abbrachen und auch in diesem Zusammenhang zerstört wurden und dann zu Boden fielen. Dann stellt sich allerdings die Frage, was diese größeren Glaskorpusse in einem Marschzug zu suchen hatten, ob er nun aus zivilen oder militärischen Gründen unterwegs gewesen sein sollte. Dazu müsste man nun in den Fragenkomplex einsteigen, was sie einst für eine ursprüngliche Bedeutung und Bestimmung gehabt haben könnten. Erst dann könnte man tiefer greifen um zu sondieren, ob diese Ausrüstungsteile oder Gebrauchsgegenstände von Legionären, deren Anführer oder von Begleitpersonen gestammt haben könnten. Da es wertvollere Gebrauchsgegenstände waren, sollte man zunächst davon ausgehen, dass es auch ein höher gestellter Personenkreis war der sie verwendete. Sollten die Glaselemente mit den Tischsitten einher gehen, so war die Führungselite es möglicherweise gewohnt ihre Mahlzeiten mithilfe gläsernen Geschirrs einzunehmen. Diesen Objekten eine andere Herkunft und Bedeutung beizumessen, als dass sie zur Tischkultur zählten, schließe ich bis auf eine zweite Variante gegenwärtig aus. Möglicherweise handelte es sich bei den Scherben die zu Trink- oder anderen Gefäßen gehörten aber auch um Teile, die in einem intakten, uns jedoch derzeit noch unbekannten Ursprungszustand auch als Handel - oder Tauschware hätten Verwendung finden können. Man hätte sie aber sowohl als auch verwenden können, in dem man die Teile zwar zuvor selbst nutzte, um sie dann aber auch als Tauschware mit ins Geschäft einzubringen. Aber es waren zweifelsfrei diese Glaselemente die die Fachwelt und die Laien gleichermaßen irritierten und die man auch in diesem gebrochenen Zustand schon als Unikate vorindustrieller Handwerkskunst ansprechen könnte. Relikte, in denen wir heute zwar eine revolutionäre Errungenschaft der Altvorderen sehen möchten und die wir mit Bewunderung und Hochachtung in den Händen halten, die aber von unseren römischen Vorfahren schon wie Wegwerfware behandelt und betrachtet wurden und gar nicht so ungewöhnlich waren, wie es uns vorkommen mag. Aus unserem zeitgeistigen Sichtwinkel beurteilt blicken wir jedoch auf äußerst seltsame Glasobjekte, die man an mehreren Stellen in Westfalen und im Rheinland fand und deren Herkunft und Bedeutung für die Experten im Dunklen liegt, als wären sie vom Mond gefallen. Aber solange selbst die internationale Forschungsdisziplin der Kenner klassisch römischer Glasmacherkunst der augusteischen Zeit, was diese Stücke anbelangt schweigen muss und sich über die Teile nichts Konkretes sagen lässt, werden sie vermutlich noch lange von der Wissenschaft vereinfacht ausgedrückt „Glasaugen“ genannt. Eben leblose Augen, die zwar nicht maßstäblich, aber dem menschlichen Sehorgan sehr ähnlich sind und so sollte man sie sich näher betrachten. Unter anatomischen Gesichtspunkten gesehen, weist ein gesundes Auge einen weißen Augapfel auf, mittig darin eine unterschiedlich farbige Iris und darin dann die scheinbare pechschwarze Pupille. Bedingt durch den kugelförmigen Augapfel sieht man auch dem imitierten Organ schon von außen die Rundung an. Die ausgegrabenen Scherbenstücke vermitteln also auf den ersten Blick ebenfalls ein rundlich gewölbtes Erscheinungsbild was zum Augenvergleich verleitet. Auch Wirkung und Ausstrahlung erinnert optisch an eine Iris bzw. kommen dem auch nahe zumal das Mittelstück einer Pupille ähnelt, sodass die Scherben in der Tat auch etwas Augen artiges an sich haben. Iris und Pupille aus Kalkriese wurden jedoch nur in drei Fällen, also anatomisch naturgetreu auf weißes Glas geschmolzen, weiß wie wir es auch vom menschlichen Augapfel her kennen. In zwei weiteren Fällen nahm man jedoch kein weiß, sondern eine Unterlage in hellbraun in etwa erdfarbig. Und in einem Fall ist der „Augapfel“ sogar statt weiß in hellblau gehalten. Farben die es beim menschlichen Augapfel bekanntlich nicht vorkommen. Aber der Kunst und der Farbgebung waren auch schon im Altertum keine Grenzen gesetzt. Schaut man sich dann bei allen abgebildeten fünf Scherben die Iris genauer an, so ist diese in drei Fällen schwarz, einmal hell und einmal dunkelblau. Was aber auffällt ist die Tatsache, dass das menschliche Auge gar keine schwarze Iris kennt. Aber auch hierfür gilt natürlich die künstlerische Freiheit. Betrachtet man nun die fünf auf der Iris kenntlich gemachten Pupillen so entdecken wir, dass sie in drei Fällen die gleiche Farbe aufweisen, wie die sie umgebende Iris nämlich schwarz und sich nur angedeutet und durch einen gelben Kreis gekennzeichnet davon abhebt. Nur der gelbe Ring stellt den Unterschied zur Iris heraus bzw. macht den Kontrast zwischen Iris und Pupille sichtbar. In einem anderen Fall ist die sonst bei Menschen immer schwarze Pupille hier sogar mal gelb mit abgedunkeltem Kern. Aber die Pupille bei der letzten Glasscherbe ist als einzige sogar unrund und noch dazu mit ausgezahnten bzw. zackigen Ränder geformt, ist dunkelbraun und wirkt erdfarbig. Hier verließ man also in erheblichem Maße das naturgetreue Abbild des menschlichen Auges. Nutzt man diese aus medizinischer Sicht beschreibende Analyse als eine archäologische Grundlage, so hat man im Altertum der Kunst wahrlich einen großen Spielraum eingeräumt, denn menschlichen Augen sehen diese nur zum verwechseln ähnlich. Man wollte hier also nicht unbedingt naturgetreu arbeiten, sondern nur eine augenscheinliche Wirkung erzielen. Der Glas Unterbau unter Iris und Pupille in dem wir das Augapfelelement sehen möchten ist also in einem Fall hellblau und einem zweiten erdfarbig und nur in drei Fällen ordnungs- bzw. naturgemäß weiß. Was wir aber bisher nicht kennen ist die weitere Formgebung, Fortführung bzw. Fortsetzung der Scherbe, da uns eine Vorstellung über den darunter verborgenen Komplettzustand versagt bleibt. Anders ausgedrückt, wie sah es hinter dem „Scherbenhorizont“ aus. Dieses unbekannte Unterglasstück war die Auflage für die Iris- und die Pupillendarstellung, wobei ich das Wort Augapfel wegen der Farbabweichung für das Unterglasstück vermeiden möchte, da es suggerierend auf ein Auge abzielt. Das Material aus dem Iris und Pupille erzeugt wurden führte im Aufschmelzungsprozess zu örtlichen Verdickungen, was den Bruchprozess um diese Bereiche begünstigt hat. Stelle man sich hinter den Scherben ein einst intaktes bauchiges Behältnis vor, so könnte dieses komplett in weiß, hellblau oder erdfarbig gehalten gewesen sein und die erhöht angebrachte Iris und Pupille würden nur die Griffigkeit verbessern helfen und hätten zudem noch einen dekorativen Begleiteffekt. Das würde auch dem Gedanken den Boden entziehen es könne sich bei den Scherben um originale Augapfelnachbildungen handeln. Denn das Originalgetreue zum Auge fehlte ihnen, sodass sie als Augeinlagen für Statuen oder Statuetten wegen der Farbabweichungen nicht mehr geeignet gewesen wären. Es sei denn man wollte hier etwas Abstraktes schaffen. Die kleinen Scherben wären also vielmehr die jeweiligen Teile passend zum Gesamtgefäß und zeigen damit schlüssig seine Gesamtfarbe. Alle Scherben vermitteln jedoch durch die abbruchbedingte Risskante bzw. die dadurch gestörte Formgebung zwangsläufig den Eindruck schlitzartiger Augen, da sie in dieser spitzwinkligen Form in den Boden gelangt sind. Löst man sich also von dieser Überlegung haben wir es hier nicht mit kompletten Augen zu tun, sondern immer nur mit Iris und Pupille. Denn das Weiße, das wir für einen Augapfel halten ist bereits Teil des Ursprungsobjektes. Diese Interpretation ermöglicht einen völlig anderen Blickwinkel auf die Scherben, denn nun sind die rundliche Iris samt Pupille nur noch aufgebuckelte, warzen - oder knospenförmige Erhebungen. Dies ließe auch in dem unzerbrochenen unbekannten Ursprungsteil eine völlig andere Funktion vermuten und schwächt den Verdacht, dass man die Teile einst in die Augenhöhlen von Statuenköpfen legte, denn es widerspräche dem römischen Schönheitsideal und damit einem antiken Perfektionsanspruch. Der leicht hinkende Vergleich mit einem Auge träfe zwar immer noch zu, ließe aber auch neue Schlussfolgerungen zu. Würde aber in allem auch die Fragestellung ad absurdum führen, wofür man in Germanien am Nordrand des Wiehengebirges römische Statuen gebraucht hätte. Die rundlich aufgeschmolzene Kombination aus Iris und Pupille könnte dann, hätte denn den Scherben einst ein komplettes Glasgefäß zugrunde gelegen auch mehrfach daran angebracht gewesen sein können, etwa eine angenommene rundum oder verstreut verlaufende Musterung oder Ornamentik, den damaligen Geschmacksvorstellungen angepasst. Sei es, dass man es als Trinkgefäß oder als Schale benutzt hätte. So starren uns hier zwar Augen ähnliche Objekte an, die uns wie aus einer anderen mystischen Welt erscheinen, die aber möglicherweise nur dem Zweck der Verzierung, Dekoration oder der Griffigkeit dienten. Sie könnten aber auch einer gängigen und zeitgemäßen Glasmacherkunst entsprungen sein und sogar praktischen Nutzen gehabt haben. Das Auge wäre dann nicht ihre eigentliche Bestimmung, sondern nur ein Bestandteil und Ausdruck einer modischen Impression der Zeit gewesen. Eine Beziehung in orientalische Regionen herzustellen, aus denen man Schutzamulette gegen den bösen Blick kennt, ist bei dieser Interpretation schwerlich möglich, denn man weiß nicht wie weit diese Tradition zurück greift. Allerdings bei der zweiten Variante auf die ich noch eingehen möchte. Es würde sich aber eine Verbindung aufbauen lassen, wenn man einst diese Amulett artigen Glasaugen auch dazu nutzte um damit einen Anblick auf ein sakrales Objekt zurückzuweisen oder abschrecken wollte. In dem man also den menschlichen Blick mithilfe starrer Glasaugen, die auf den Betrachter gerichtet sind vom Anblick ablenkt. Wir wissen um die Berührungsängste der Römer im Zusammenhang mit dem Tod bzw. den Bestattungen von Knochen. Zweifellos denkt man dabei unwillkürlich an die Rüge die Kaiser Tiberius dem Feldherrn Germanicus, einem Auguren gegenüber aussprach, als dieser sich auch am Knochenberg für die Varuslegionäre zu schaffen machte. So lassen sich auch andere Überlegungen anstrengen mit denen man sich erhofft das Ursprungsteil an dem einst die Glasaugen befestigt gewesen sein könnten imaginär greifbar zu machen. Ob die Glaselemente in voluminöse und pompöse Möbelstücke wie etwa Totenbahren also Klinen eingelassen waren klingt angesichts des Fundortes nicht unbedingt überzeugend. Man geht davon aus, dass auf der 2023 sechs Meter unter der Londoner Straßendecke frei gelegten römische Kline ein hochrangiges Mitglied der damaligen Gesellschaft bestattet wurde. An Beifunden konnte eine römische Lampe, ein Glasfläschchen sowie Perlen gemacht werden unter denen sich aber keine Glasaugen "Modell Kalkriese" befanden. Denn wer wollte diesen größeren Gegenstand, wie man ihn mal in Trier zu Versuchszwecken nachbaute, vor rund 2000 Jahren, noch dazu auf dem Landweg und in Karren verstaut, gezogen von Maultieren durch die norddeutsche Sumpflandschaft bugsieren. Eine offene Frage, die auch im Zusammenhang mit der Möglichkeit innen liegender Augen für Standbilder also Statuen einher geht und diese gleichfalls infrage stellt. Denn wo hätte sich proportional passend zu den toten Glasaugen in Norddeutschland ein Ort finden lassen, wo man an der Aufstellung einer entsprechend großen römischen Statue interessiert gewesen sein könnte. Ebenso wie die Frage, welch hochrangigen Toten es gegeben haben könnte, um ihn in einem großen Totenbett bei Kalkriese von A.) nach B.) entlang transportieren zu müssen. Aber wie man es sich zur Angewohnheit gemacht hat, möchte man auch keinen Gedankengang unterschlagen. So gibt es für diese rätselhafte Glasaugenfunde noch eine weitere Erklärung, der im folgenden Kapitel auf zu den Grund zu gehen wäre. (10.2.2020 und ergänzt 11.02.2024 )

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