Mittwoch, 7. April 2021
Wenige Tage vor der Varusschlacht. Die letzte Versammlung der Cherusker. Meldereiter berichten über die aktuelle Lage, alle Blicke sind auf Segimer gerichtet. Die Waffen hat man schon in der Hand. Segestes lässt sich gerade davon überzeugen doch mit zu machen. Die Entscheidung ist gefallen und die ersten Germanen brechen bereits auf. Reliefausschnitt von der Mark-Aurel-Säule (frei interpretiert)

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Varus und sein Ringen, dass Richtige tun zu wollen - Wir müssen uns auf eine komplexe Stimmungslage einlassen.
Schwer vorstellbar, aber der Nethegau war damals für einige Jahre so was wie der militärische Nabel Mitteleuropas. Wir hingegen fühlen uns heute so, als säßen wir in der ersten Reihe und betrachten seelenruhig von einem postantiken, aber vor allem bequemen Podest aus, wie der Beginn der Varusschlacht immer näher rückt. So blicken wir visionär auf die Rheinrückkehrer und sehen, wie sie sich nichts ahnend auf ihren militärischen Exkurs zu den Rebellen vorbereiten. Man bibbert förmlich mit ihnen, da man weiß was sie erwartete. So sollte sich bestätigen, das sich selbst die eingespielteste Routine schnell in Dramatik verwandeln kann, denn Garantien auf einen Sieg gab es zu keiner Zeit. Der damaligen Atmosphäre nachzuspüren, zu versuchen sie einzufangen und die einstigen Entscheidungsprozesse zu erkennen bleibt selbst den Spürsinnigsten unter uns verwehrt, aber der Versuch ist gestattet. Die letzten Stunden komprimiert zu betrachten um es mit den damaligen Möglichkeiten abzugleichen und die Auslegungsspielräume auszuschöpfen erfordert das Zurückstellen unserer inneren Uhr und das nicht nur auf die Winterzeit. Ausgerüstet mit dem frischem Wissen von Cassius Dio im Rücken wird aufs Neue unser Vorstellungsvermögen angespornt. Und gerade in diesem Moment tritt wieder ein ganz besonderer Aspekt besser gesagt ein klassischer Makel in den Vordergrund, dem die Geschichtswissenschaften kaum Beachtung schenken. Nicht, weil es sie nicht interessieren würde oder weil es so unbedeutend wäre, vielmehr muss der Grund dafür an einer besonders deprimierenden und pikanten Stelle gesucht werden, denn er offenbart unser Nichtwissen darüber wie sich Römer und Germane damals sprachlich verständigten. Und noch etwas. Was wissen wir eigentlich über die Existenz oder die Bedeutung keltischer Dolmetscher. Dazu liegen uns ebenfalls keine Erkenntnisse vor, unsere Vorstellungen sind zu "druidenhaft" und mit schleierhaftem Wissen möchte sich keine seriöse Wissenschaft ernsthaft auseinander setzen. Unsere Annahmen reichen von lateinisch sprechenden Germanen über germanisch sprechende Römer bis zu einigen vielleicht sogar beide Sprachen beherrschenden Kelten. Aber sie könnten die damalige Szenerie geprägt haben. Und Kelten könnten somit sogar die Konversation gelenkt und damit beeinflusst haben. Aber der mit Abstand größte Teil aller am damaligen Konflikt beteiligten wird einer schweigenden Mehrheit angehört haben, weil er die Sprache seines Gegenübers nicht konnte. Und alles wurde noch zusätzlich durch die Vielzahl regionaler Dialekte erschwert. Befehle gingen durch viele Münder und fremdartige Zungen, führten zu Verwirrung und der Kreis jener die bei allem den Überblick behielten wird verschwindend gering gewesen sein. Wie kommunizierte man also untereinander an der Weser. Das Volk der Cherusker sprach protogermanisch, urgermanisch, gemeingermanisch oder westgermanisch. Und die Vielzahl von Bezeichnungen die man ihrer Sprache gab verrät elementares Unwissen. Die Cherusker entstammten dem umfänglichen Kulturkreis dem man den Namen Jastorf - und Harpstedt - Nienburger Gruppe gab, waren in der Nachfolge gleichsam deren Bestandteil und somit Grenzstamm dieser Großgemeinschaft, denn sie besiedelten den südlichen Rand ihres Verbreitungsraumes. So unterlagen die Cherusker zwangsläufig stärker den Strömungen und Einflüssen aus dem Norden und Osten Germaniens, da sie bekanntermaßen weder aus dem Süden noch von Westen aus nach Ostwestfalen zuwanderten. Aber sie trugen auch die Kultur ihrer autochthonen Vorfahren in sich. Und diese bestand aus der keltischen Ur - Bevölkerung deren Wohngebiete bis an den Nordrand der Mittelgebirge reichten, bevor der Blick in die Weiten der norddeutschen Bucht fiel. In ihren Siedlungsgebieten zwischen Egge und Harz traf man weit vor der Jahrtausendwende aufeinander, verschmolz miteinander und schuf die Basis unserer heutigen ostwestfälisch/südniedersächsischen Dialekte. Das nicht nur die Kelten in zugewanderten Völkern aufgingen, wenn diese dominanter auftreten, gehört zu den normalen Prozessen der Menschheitsgeschichte und man könnte vereinfacht sagen, so sprachen auch die Cherusker. Und es gibt auch einen möglichen Hinweis darauf, dass die keltische Zunge bei der Kommunikation geholfen haben könnte und dabei als Vermittler zwischen den beiden Kulturblöcken auftrat. Nach allem was sich recherchieren lässt, siedelte der Stamm der Cherusker nördlich der bekannten Sprachgrenze, die heute immer noch unübersehbar - besser gesagt unüberhörbar Deutschland teilt und diese alte Trennlinie markiert. Geht man der Frage nach wie man in Varuszeiten der Sprachlosigkeit zwischen den Kulturen begegnete und die damit verbundenen Probleme überwand, dann nähert man sich unter Einbeziehung der keltischen Ureinwohnerschaft auch unweigerlich jenem Themenkreis an, wo es um die Forschung nach den Ursachen und Zeitabläufen dieser Lautverschiebung geht. Denn es war wohl eher eine germanisch/keltische, denn eine sächsisch/fränkische und noch weniger eine hochdeutsch/althochdeutsche Sprachbarriere. So stieß das Verbreitungsgebiet der vor römischen Kulturen, in diesem Fall der "Jastorf - und Harpstedt - Nienburger Menschen" und so mit auch das der Cherusker in etwa dort auf den angrenzenden Sprachraum, wo heute die Diemel fließt. Daraus lässt sich ableiten, dass es den Kelten südlich der Diemel und des Haarstrangs noch längere Zeit gelang, sich eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den germanischen Einflüssen zu erhalten und sich ihrer Südexpansion entgegen zu stellen bzw. sich beharrlich zu behaupten. Ein Prozess der sich über die Generationen betrachtet vor allem in Ost- und Südwestfalen bzw. Nordhessen vermutlich eher gelassener vollzog. Und hier im Spannungsfeld älterer Traditionen wandelten seinerzeit auch die Römer in einem stammesgeschichtlich undefinierbaren Terrain, denn wir wissen von Cassius Dio, dass man sich in Rom nie so recht im Klaren darüber war wann man es mit Kelten und wann mit Germanen zu tun hatte bzw. wo und wie sich ihre Siedlungsgebiete und Stämme abgrenzten. Nördlich der Diemel lagen die Dinge anders und auch noch Clothar I schien sich 556 nicht über diese Sprachgrenze hinweg in den Norden vorwagen zu wollen und begnügte sich mit dem Versprechen sächsischer Tributzahlungen. Den Nethegau kannte man am römischen Rhein bislang nur als eine notwendige Zwischenstation zur Weser. Mit den Provinzialisierungsplänen sollte sich dies jedoch ändern. Denn nun lernte man unter Varus die dort lebenden Menschen auch persönlich näher kennen. Nun waren sie auch nicht mehr die Gegner von einst, sondern quasi über Nacht zu neuen Bündnispartnern heran gewachsen. Im heutigen Nethegau der schon östlich von Schwaney beginnt und bis an die Weser reicht betrat Rom ein unbekanntes Mischgebiet. Sie brauchten diese Route um zur Weser zu gelangen und sahen darin einen Korridor, den sie wie selbstverständlich in ihre neue Provinz integrierten. Hatte man es aus römischer Sicht betrachtet hier vielleicht noch mit einem friedfertiger geprägten Menschenschlag wie etwa den Ubiern zu tun, war man noch im keltischen Einzugsgebiet, oder hatte man es bereits mit den ungestümeren Nord- oder Elbgermanen zu tun. Die Cherusker hatten diese Einflüsse in sich aufgesogen, werden sich aus vielen Mentalitäten zusammen gesetzt haben. Lebensweisen wie sie unter allen Grenzvölker zu finden sind, was sie zum einen zu Flexibilität zwingt und zum anderen auch unberechenbar machte, wie sie noch zeigen sollte. Es fällt jedoch auf und es ist sicherlich kein Zufall, dass sich die wissenschaftlicherseits fiktiv gezogene Südgrenze der vor römischen Kulturen in groben Zügen sowohl an den Mittelgebirgen orientierte, als auch zur nahen Benrather Sprachgrenze fasst parallel verläuft. Etwas versetzt und erst nach den Geschehnissen um die Varusschlacht soll dieser These nochmal nach gegangen werden. Denn diese Thematik öffnet die Tür in das fragwürdige Kapitel, ob die Falen und Altsachsen die Nachfahren der Cherusker und Angrivarier waren. Denn dafür bieten sich interessante und noch wenige beachtete Begründungen und Anhaltspunkte, die in späteren Abschnitten separat aufgegriffen werden. Damit ließe sich vielleicht sogar eine weitere Oese in der langen Kette von Beweisführungen schließen wonach die Varusschlacht im Nethegau statt fand und wofür der Titel dieses Internet Buches steht. Denn auch Kelten könnten dabei eine Rolle gespielt haben. Aber zurück in den allseits vermuteten Hexenkessel, also in die Zeit vor dem Verlassen des Sommerlagers. Wir bilden uns ein, während der Stunden vor dem Ausmarsch habe eine explosive Stimmung geherrscht und die blanke Hektik regiert, aber es spricht einiges dafür, dass man sich trotz aller Informationen, Gerüchte und Halbwahrheiten einen kühlen Kopf bewahrte. Aber was wissen wir und was lässt sich über die Menschen sagen denen noch nicht bewusst war, dass sie am Abend vor dem Ausmarsch schon hart an der Grenze einer Schlacht standen. Verständlicher wird vieles im Zuge der Recherche, denn nach Lage der Dinge herrschte im Lager aufgrund der nicht ergangenen Segestes Warnung eine mögliche Gelassenheit. Denn wir finden bei Cassius Dio die besten Hinweise dafür, dass es sich bei dem in die Geschichtsbücher eingegrabenen Segestes, dem vermeintlich großen Verräter, nur um eine unscheinbare und unauffällige Hintergrundfigur der Geschehnisse handelte, die aber letztlich stumm blieb. Und so konturlos - und bedeutungslos wie Segestes bei Cassius Dio erscheint könnte man sogar auf den Gedanken kommen, Segestes habe den ganzen Geschehnissen vor der Schlacht im römischen Lager an der Weser noch nicht einmal beigewohnt. Denn das Cassius Dio es noch nicht einmal für nötig befand der Leserschaft seinen Namen zu hinterlassen ist schon befremdlich wo er doch angeblich so bedeutungsvoll gewesen sein soll. Denn mit seinem Fingerzeig darauf, dass es mehrere Personen waren die Varus zur Vorsicht rieten und nicht nur der eine uns allen bekannte Segestes, raubte er ihm gänzlich seinen geschichtlich hinterlegten Nimbus der germanische Unhold schlechthin gewesen zu sein. Wäre es allein nur nach Cassius Dio gegangen und es lägen uns nur seine Schilderungen vor und wir hätten von Paterculus, Tacitus oder Florus nichts über Segestes erfahren, dann hätte es einen Segestes in der antiken und germanistischen Literatur nie gegeben. Zwei Fakten die uns an vielem Zweifel lassen müssen, was man vor Cassius Dio über Segestes nieder schrieb. Damit bricht auch automatisch ein Großteil unserer Visionen in sich zusammen die wir uns über die umtriebige Zeit vor dem großen Ausmarsch gemacht haben. So musste die Forschung bislang davon ausgehen, Varus habe die Warnung von Segestes vernommen, habe sie aber verworfen. Ebenso wie man annehmen durfte, das Varus auch das Angebot von Segestes kannte sich freiwillig in Fesseln zu begeben, er es aber ablehnte. Und genauso mussten wir annehmen, Varus habe gewusst, dass sich hinter Arminius der als allgewaltig beschriebene germanische Rädelsführer verbarg, aber darüber ungläubig hin weg sah. So waren es demnach allesamt Annahmen die Cassius Dio ausräumte da es bei ihm keinerlei Erwähnung fand und keine Bedeutung hatte. Episoden von denen Cassius Dio selbst nichts wusste oder wovon bei ihm nichts zu lesen ist. Und dazu kam dann noch ein Segestes, der bei ihm noch nicht einmal namentlich im Text seiner Annalen auftaucht. Auch mit dem zeitlichen Abstand und den Augen eines Cassius Dio gesehen klingt es so, wie es sich bereits hinlänglich enthüllen und begründen ließ. Denn auch Cassius Dio zeichnet uns ein Bild demnach es die "Segestinischen Prophezeiungen" damals gar nicht gegeben hat. Ein Kartenhaus errichtet auf den schwindelhaften Aussagen eines Mannes der im eigenen Interesse handelte, das aber mangels Beweislage in Rom akzeptiert wurde. Die Bestätigung dafür lässt sich den Konsequenzen entnehmen. Varus organisierte auf umsichtige Weise den großen Ausmarsch. Da er über die nötige Einsicht in die Lage verfügte und sich des Problems bewusst war, folgte er auch dem Ruf des Arminius und nahm die Aufforderung, er möge doch Kraft seiner Würde die Funktion eines Friedensstifter bei den Aufrührern übernehmen an. Er teilte wie sich rekonstruieren lässt den Marschzug auf um überflüssige Güter und gefährdete Zivilpersonen nicht dem Umweg und auch nicht den Kampfhandlungen auszusetzen und stellte zu deren Geleit zudem eine Anzahl Soldaten ab. Im Sommerlager zeigte sich das Leben und Treiben vor dem Auszug von seiner unaufgeregten Seite, das eingespielte Verhalten von Normalität, welches dem Betrachter ein Bild wie im tiefsten Frieden bot. Genauso wie es auch die antiken Historiker zum Ausdruck brachten. Aber alle Geschichtsschreiber haderten letztlich mit der Realität des Faktischen, denn keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass es tatsächlich so gewesen sein sollte. Da doch alle wussten, was später folgen sollte, standen sie kopfschüttelnd vor einer Wand der Ratlosigkeit. So mussten sie sich die Frage stellen, warum man denn zum Teufel vorher im Kreise des Feldherrn von einem derartigen Desaster nichts erfahren haben wollte. Ob nun von Segestes oder von anderen. Immer wieder ging es ihnen durch Kopf und Gemüt wie alles passieren konnte. Und das niemand etwas von der Ernsthaftigkeit der Bedrohung gewusst haben sollte klang für sie völlig unglaublich. Somit tat sich in der Gedankenwelt aller antiken Schreiber ein schwer überbrückbares Rätsel auf. Ein Zwiespalt für den Segestes den optimalen Nährboden für die nach Erklärungen dürstende römische Gesellschaft abgab. So konnte man sich auf diese Weise bequem das Unerklärliche, erklärlicher machen. Nun aber liegt uns die Überlieferung von Cassius Dio vor und aus seinen Worten lässt sich ableiten, dass man Segestes nach dem was ihm zur Auswertung vorlag alles andere war, als der herausragende, geschweige denn ernsthafte Ratgeber oder zuverlässige Berater des römischen Feldherrn. Und so verließ Varus das Sommerlager eben nicht in dem Bewusstsein, dass es zu mehrtägigen und umfangreichen Auseinandersetzungen kommen würde. Nach Cassius Dio blieb ihm nun nichts übrig, als lediglich der Ratschlag einiger namenloser Besorgter, man möge doch wegen des Aufruhrs alle weiteren Schritte mit Umsicht und Bedacht angehen. Eine völlig normale Reaktion unter Menschen. Alles war bei Varus der nüchternen Betrachtung gewichen, dass es lediglich galt eine mittlere Stammesfehde zu beenden und darum dieses möglichst auf dem Wege der Rechtsprechung zu erreichen. Sich unter diesen eher gemäßigt anhörenden Voraussetzungen eine Vorstellung darüber zu machen wie sich die kritischen Stunden oder letzten Tage vor dem Abzug gestalteten, setzt trotzdem ein hohes Maß an Gespür für die alten Zeiten voraus. Es ist allerdings mangels Livebild oder Abhöranlage um in die längst vergangenen Töne hinein zu horchen die maximale Herausforderung an unsere inneren Sensoren. Die DNA soll zwar auch Erinnerungen speichern können, aber es dürfte schwer fallen sie zum Reden zu überreden. Gelänge es halbwegs, dann böte sich uns ein vielleicht ein gemischtes Bild geprägt von Offenherzigkeit aber auch Intrige. Denn List und Tücke blühte nicht nur im Zentrum des Imperium Romanum, die provinzielle Boulevardpresse war noch nicht erfunden und Enthüllungsplattformen standen der Welt noch bevor. Trotzdem gewährten uns die antiken Schreiber und das auch schon mal in teils deftiger Form, immer mal wieder Einblicke in die römische Lebensweise, auch Dekadenz genannt. Aber am nordöstlichsten Zipfel römischer Militärpräsenz im tiefsten Germanien herrschte Frontatmosphäre. Von dort drang nicht viel nach außen und Tote können bekanntlich nicht sprechen. Wie dankbar wären wir für aufschlussreiche Gesprächsmitschnitte, schriftliche Protokolle oder Tagebücher von Dialogen aus altgermanischen Zeiten um uns ein besseres Bild machen zu können. Wie könnten sich die letzten Zwiegespräche angehört haben, wer führte sie miteinander, wie edel unterwürfig oder niederträchtig verliefen sie, wie arglistig und hinterrücks wurden sie geführt, wie mögen sie geklungen haben, in welcher Sprache oder in welchem Dialekt unterhielt man sich, wie drückten sich die Menschen aus und welches Vokabular kam zur Anwendung. Alles Fehlanzeige und wir rätseln weiter wie man kommunizierte. Haben wir mal einen antiken Historiker aufgespürt, den wir zum Textvergleich heranziehen könnten, so lässt das nächste Problem nicht lange auf sich warten. Denn der tragische Fall der keltischen Heldin Boudicca offenbart uns bei alledem noch eine weitere historische Misere. Nämlich einen permanenten Erklärungsnotstand, den uns die antiken Geschichtsschreiber leider zu oft hinterließen. Denn während sich Boudicca die britannische Königin und Heerführerin laut Tacitus nach ihrer Niederlage gegen Rom vergiftet haben soll, konnte Cassius Dio der sich rund 100 Jahre später mit ihr befasste nur berichten, dass sie erkrankte und später verstarb. Tacitus besaß also mehr Detailwissen als Cassius Dio. Und das, obwohl wir oft die Ansicht vertreten, dass der später Schreibende auch über mehr Kenntnis verfügt haben sollte. Mitnichten könnte man in diesem Fall meinen. Beides birgt natürlich keinen Widerspruch in sich, aber warum erwähnt Cassius Dio, der lange nach Tacitus lebte nichts von Gift. Warum übernahm also der jüngere Cassius Dio nicht das offensichtliche Mehr an Wissen, was die Aufzeichnungen des älteren Publius Cornelius Tacitus her gaben. Kannte er am Ende gar nichts von alledem was Tacitus schrieb, lagen ihm andere Berichte vor, aus denen Gift als Ursache nicht hervor ging. Oder war schon Tacitus der, der falsch informiert war. Kalamitäten die sich nicht durchdringen lassen, sodass man sich am Ende die Frage stellen muss wie spitz unsere Lanze sein müsste, um diese historischen Nebel durchstechen zu können. Auch auf die Varusschlacht bezogen kann man schon den Eindruck gewinnen, dass Cassius Dio nichts von dem Wissen seiner Vorgänger, explizit dem von Tacitus besaß oder nicht davon profitierte bzw. profitieren wollte. Hätte Cassius Dio die Überlieferung von Tacitus genutzt, dann hätte er doch auch die Geschehnisse um das Auftürmen der Knochen, woran sich Germanicus sogar selbst beteiligte, mit in seinen Mehrtages Schlachtenbericht einflechten können. Eine Frage die wir uns auch in Bezug auf die Schriften des Florus zum Lagerüberfall stellen müssen, denn da erfahren wir auch von Florus Details, die Cassius Dio später nicht erwähnte. Das rätselhafte Auslassen von Ereignissen und Beschreibungen über das ältere Historiker noch verfügten, das aber vom jüngeren antiken Historiker Cassius Dio weg gelassen oder nicht genutzt wurde wirft die immer gleichen Fragen nach der Quellenlage auf. Wie war das also mit den als höchst aufschlussreich gehandelten Senatsakten, wenn doch die Vorgänger von Cassius Dio das eine oder andere doch besser gewusst zu haben schienen als er. Alles bietet viel Raum für Spekulationen und Hypothesen, wenn man es auf die Ungereimtheiten zum Verlauf der Varusschlacht herunter brechen möchte. Als eine Gewissheit sollte man voraus setzen dürfen, dass sich Varus seiner Verantwortung immer bewusst war und sich bemühte mit den Germanen eine geeignete Zugroute abzustimmen, die ihn auf dem besten Weg zu den Aufrührern führte. Und genauso können wir davon ausgehen, dass Varus die genaue Örtlichkeit des fiktiven Aufruhrs, also das Stammesgebiet der Rebellen gar nicht oder nur sehr vage kannte. Denn das Verheimlichen dieser Details gehörte bereits zur Strategie des Arminius. In dieser Phase muss es des Öfteren zu unmittelbaren Gesprächen zwischen Arminius und Varus gekommen sein, denn Varus wusste nicht wo er hin zu marschieren hatte, war auf Arminius angewiesen und musste sich ihm anvertrauen. Über die Häufigkeit in der Varus und Arminius miteinander in Kontakt standen und worüber sie sprachen schweigen alle Quellen. Aber das Verhältnis muss weitaus intensiver gewesen sein, als es uns der historische Lesestoff verrät. Abgesehen von den gemeinsamen Treffen an der Weser und den Tischrunden im Sommerlager war es wohl auch Arminius selbst, der ihm den Scheinaufruhr als Köder unterschob und dazu waren einvernehmliche und vertrauliche Gespräche unabdingbar. Des Weiteren bot Arminius ihm schließlich seine und die Unterstützung seiner Männer an, wozu man sich ebenfalls abzustimmen hatte. Letztlich verließ man gemeinsam das Sommerlager und ritt Seite an Seite was sicherlich auch nicht stumm und ohne Wortwechsel verlief zumal Arminius im Gegensatz zu den vielen anderen Germanen etwas lateinisch sprach. Und das ihn Arminius dann an einer Wegekreuzung verließ um zu seinen Männern zu reiten geschah sicherlich auch nicht ohne vorherige Absprache mit Varus. Und natürlich wollte Varus von Arminius auch wissen, wann dieser gedachte und das vermutlich am Folgetag, wieder Anschluss an ihn zu finden. Daraus wird deutlich wie nahe sich beide nicht nur in den letzten Stunden standen, eine Zeit in der ein Segestes zur völligen Bedeutungslosigkeit verkam und daher bei Cassius Dio auch keine Erwähnung mehr fand. Varus ging in dieser Zeit eng auf Arminius ein und folgte seinen Ratschlägen ganz so, wie es sich aus allem Überlieferten heraus lesen lässt. Quellen an denen sich keine Zweifel fest machen lassen. Hätte Segestes die Kämpfe noch ernsthaft verhindern wollen, dann hätte gerade in diesen Momenten seine Anwesenheit vieles ändern können. Varus beugte sich Arminius im vollen Vertrauen zu, denn Arminius war für ihn nicht nur der Mann in dem er eine militärische Stütze hatte. Arminius war auch Bestandteil der gesamten Operation und er war für Varus immer zugegen und erreichbar. Was für Arminius zweifellos wichtig war, da er Varus im Auge behalten musste um notfalls umdisponieren zu können. Arminius besaß sicherlich Männer die auch dann, wenn er bei Varus weilte schnellen Rittes die neuesten Erkenntnisse an die anderen Stammesführern weiter geben konnte um sich auszutauschen. Denn Arminius war für beide Parteien der entscheidende Mittelsmann in seiner Doppelfunktion als romtreuer Germane. Varus brauchte ihn nun mehr denn je. Arminius musste und konnte gegebenenfalls besänftigend und beschwichtigend auf die Aufrührer einwirken, konnte aber auch ein Machtwort sprechen und bot sich Varus an, an der Aufklärung und Ursachenforschung dieses fiktiven Konfliktes mitzuwirken. So zumindest der suggestive Hintergrund der nötig war um Varus von seinem Plan voll überzeugen zu können. Und so stand er Varus in jener Zeit näher als jeder andere. Varus war also wahrlich auf einen Mann wie Arminius in diesen Stunden in höchstem Maße angewiesen und das war beiden bewusst. Und dem Wenigen was sich seinem naturell entnehmen lässt, wollte und durfte er Arminius in dieser sensiblen Phase sein Vorschlagsrecht sicherlich nicht streitig machen und es besser wissen wollen. Im Gegenteil er wollte alles so anordnen wie es Arminius für richtig hielt und man könnte sich vielleicht sogar die Frage stellen, wer denn der Feldherr war. Er ließ sich von Arminius führen und letztlich verführen nahm von ihm auch Empfehlungen und das vermutlich auch bereitwillig entgegen und delegierte manches an ihn weiter. Schließlich waren es seine germanischen Ortskundigen, die ihm den Weg zu den Aufrührern weisen mussten. Seine Verstärkung gab ihm das Gefühl von Sicherheit und das Machtwort von Arminius zählte bei den vermeintlichen Rebellen möglicherweise sogar mehr als sein eigenes. Wo sich das Zentrum bzw. der Siedlungsraum der Rebellen befand war letztlich unerheblich, denn für die Germanen war bekanntlich der Weg das Ziel. (07.04.2021)

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