Dienstag, 2. Juni 2020
Gab es eine Belagerung der Segestes Burg oder legte Tacitus es so aus ?
Während man den Wirkungsraum von Arminius aufgrund der Überlieferungen auf die Regionen links und rechts der Weser beschränken könnte dürfte der Herrschaftsbereich der Segestessippe davon abgerückt gelegen haben. Man könnte ihn auf Basis von Schlussfolgerungen im östlich davon zum Harz hin neigenden Solling und dem daran anschließenden Leinetal vermuten, wo sich einst auch Heinrich der Vogeler, vermutlich ein Nachfahre des alten Cheruskervolkes ebenfalls häuslich eingerichtet hatte, da er dort Ländereien besaß. In einer entfernt von „Aliso“ liegenden Region, in sicherer Distanz zu den „äußeren Brukterern“ dem „Teutoburgiensi saltu“ und „dem Land an der Visurgis“. Man kann auch sagen weit vom Schuss. Die Wohngebiete des Stammes von Segestes könnten demnach einen Grenzgau gebildet haben, der südlich an die Siedlungsgebiete der Chatten stieß und südöstlich vermutlich in Kontakt zu den Elbgermanen stand, die es wiederum nicht weit zum Markomannenreich hatten. Aber zu den Chatten lebte man in enger Nachbarschaft, sodass bedeutsame Ereignisse die sich in deren Hoheitsgebiet zutrugen auch immer unmittelbare Auswirkungen auf Segestes und seine Politik hatten. Unruhen im dortigen Gebiet zogen infolgedessen auch entsprechende Reaktionen und Konsequenzen bei den cheruskischen Nordanrainern nach sich. Bedrohte man die Chatten nördlich der Eder oder wurde dort sogar gekämpft wie es im Zuge der Verwüstungen durch Germanicus der Fall war, schrillten im vermeintlichen Vogelbeck der Segestesfeste schnell die berühmten Alarmglocken. In dieser aufgeheizten Zeit ist nun bei Tacitus die Rede davon, dass es Cherusker waren, die ausgerechnet in dieser kritischen Phase Segestes belagern würden. Der Begriff Belagerung ist definiert und in der freien Enzyclopädie ist es mit den Worten „Die Belagerung ist eine Sonderform des Angriffs mit dem Ziel, befestigte Anlagen zu erobern oder die Kampfkraft der Verteidiger abzunutzen und sie zumindest zeitweise zu neutralisieren. Dabei wird der Ort so von eigenen Truppen umschlossen, dass möglichst jeder Verkehr zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Belagerungsrings unterbunden wird“ auch gut beschrieben. Aber die Darstellung die Tacitus wählte hatte einen Haken. Denn sie könnte ein Synonym dafür sein, wie man sich in alter Zeit eine Vorstellung zur eigenen Vision machte, die aber vom tatsächlichen Verlauf abgewichen sei könnte, da man ihn nicht kannte. Erklärungslücken mit Eigeninterpretationen zu schließen ist ein menschliches Bedürfnis und erschwert die Suche nach der Wahrheit. Tacitus könnte dafür ein gutes Beispiel abgegeben haben. Und nicht nur das, denn die gesamte historische Szene leidet zwangsläufig mit darunter und es fördert das Infragestellen von allem und jedem. Über alle Überlieferung ein netzartiges Punktesystem der Plausibilität zu legen würde uns auch nicht weiter helfen, denn Zweifler werden nie verstummen. Wir brauchen aber andererseits die konstruktive Auseinandersetzung um uns nicht die letzte Chance auf die Wahrheitsfindung zu verbauen. Tacitus vom Historiker zum Geschichtenerzähler abzustufen kann nicht unser Ziel sein. Würden wir ihm aber blindlings folgen, beraubten wir uns unserer eigenen Meinungsfreiheit und Ausgestaltungskraft die auch uns keiner nehmen kann. So müssen wir uns wieder die alte Zeit so lebendig wie möglich geistig erschaffen um Tacitus besser verstehen zu können. Es fing also möglicherweise alles in einem erdachten Raum im Gewölbe des Palatin an. Dort könnte man sich im Jahr 17 + nach dem Germanicus mit der Segestes Familie römischen Boden betrat ein obskures Zusammentreffen vorstellen. Höher gestellte dem Kaiser Tiberius nahe stehende Beamte wollten vieles von Segestes in Erfahrung bringen und bestellten ihn ein. So zum Beispiel ob und wie intensiv sich der Römerfreund Segestes im Jahre 9 + bemüht hatte Varus von der Gefahrenlage zu überzeugen und wie er seinen späten Entschluss erklärte, sich erst im Jahre 15 + auf die römische Seite geschlagen zu haben. Segestes soll sich dazu im Wortlaut so geäußert haben, wie wir es im Kapitel 1.58. (1) im Jahrbuch von Tacitus nach lesen können und glauben sollen. Aus einer bereits dargelegten parallelen Interpretationsversion dieser palatinischen Befragung könnte man den Schluss ziehen, dass die dem Tribunal angehörigen römischen Hofbediensteten im Zuge seiner Erklärungsversuche auch unliebsame Dinge erfuhren und somit die wahren Begebenheiten erkannten. Je nach dem wie gut ihre Verhörmethode waren, konnten sie dem Gespräch entnehmen, was sich im Jahr 9 + aber auch im Jahr 15 + in Germanien hinter den Kulissen zutrug. So hörten sie von Segestes nicht nur wie die Schlacht im „Teutoburger Wald“ ihren Anfang nahm und vieles mehr, sondern auch seine Version der Befreiung im Frühjahr des Jahres 15 +. Was aber betrüblich macht, ist das völlige Fehlen des Gegenparts nämlich das, was dazu nachweislich aus dem Munde des Befreiers Germanicus kam. Hier gibt uns Tacitus zwar vage Hinweise, führt aber an keiner Stelle aus, woher er diese nahm und wie er auf sie kam. Obwohl uns schon ein Anfangssatz glücklich stimmen würde, der da lauten könnte, „Germanicus sprach dazu folgendermaßen“......., aber darauf hoffen wir vergeblich. Das von Segestes Überlieferte bzw. das also solches ausgewiesene kennen wir seinem lateinischen Inhalt nach. Da es aber für unsere Ohren besser gesagt Augen wie eingeübt und hölzern wirkt ist zu vermuten, dass dies nicht seine originalen Worte waren. Denn diese zu Papier zu bringen entsprach insbesondere was die darin geschilderten Umstände in Bezug auf die „Clades Variana“ anbetraf, nicht dem Wunsch des Kaiserhauses. Denn dort stand der allein schuldige Varus schon lange fest. Und in der Tradition vieler Historiker stehend, nämlich die Begebenheiten nicht immer so wieder zu geben, wie sie sich tatsächlich ereigneten, servierte uns auch Tacitus den geschichtsträchtigen Ablauf seiner Rettung auf seine ihm eigene und andersartige Weise. Folglich so, dass es zunächst einmal seinen persönlichen Ansprüchen, Befindungen und Vorstellungen genügen sollte, also seinen eigenen Bewertungen und Einschätzungen stand zu halten hatte. So bemühte er seine ihm gegebene Logik um es für sich glaubhaft zu machen und für die Nachwelt befriedigend zu hinterlassen. Da Segestes sicherlich nicht sein eigener Herr über sein Gesagtes war und es nicht sein durfte und zudem auch selbst nicht imstande war es eigenhändig zu verschriften, lag auch Tacitus kein beglaubigter Segestes Urtext vor, sollte es diesen überhaupt jemals gegeben haben. Ihn erreichte lediglich ein vermutlich wertloses Faksimile, da es aus zweiter Hand stammte. Denn was er vorfand waren nur die Notizen derer, die es einst nach dem „Gewölbegespräch“ auf ihre Weise zu Papier gebracht hatten. Und wer wollte schon erwarten, dass man Segestes ein Protokoll vorlegte besser gesagt ihm ein Schriftstück unterschob, das er selbst nicht einmal lesen konnte, dann aber handschriftlich signieren sollte; und das rund 800 Jahre vor dem nächsten historischen Fehlgriff. Der konstantinischen Schenkung. Vielleicht dürfen oder müssen wir sogar annehmen, dass Tacitus darin selbst Ungereimtheiten erkannte, die er sich nicht erklären konnte, aber für korrekt halten musste. Wirft man nun einen Blick auf den Text und die Worte die Tacitus aus alledem ableitete und im Zusammenhang mit seiner Art der Geschichtsaufarbeitung verwendete, so müssen wir uns auch der Tatsache bewusst sein, dass Tacitus nicht nur in sein Jahrbuch 1.57 und in die Abschnitte 1 – 5 eigene Schlussfolgerungen eingebaut hat, sondern auch anderswo. Denn er verzichtete und das wohl mangels Wissen zu oft darauf uns mitzuteilen wie er andernfalls auf den Inhalt gekommen sein könnte. Ein einfaches Beispiel dafür ist eine Darstellung im Kontext seiner Jahrbücher. So vertritt, er die Überzeugung, dass sich die Barbaren von Personen, die ein besonders kühnes und wortgewaltiges Auftreten an den Tag legten, eher für einen Waffengang erwärmen lassen, als von zaghaften Anführern. Hier vermittelt er uns eine Weisheit, die so alt ist wie die Welt und zu der es keines Tacitus bedurft hätte, denn es gehört zum allgemeinen Erfahrungsschatz der Zeitgeschichte. Er überbrückt mit derartigem Allgemeinwissen faktenreichere Geschehnisse. Überbrückt sie aber nicht nur sondern überlagert sie auch und beginnt damit seine eigene Geschichte zu erzählen. Und dazu würde dann auch die von ihm dargestellte vermeintliche Tatsache passen indem er, und nur er davon ausging, dass Segestes eigentlich nur belagert worden sein konnte. Ein Sachverhalt der sich ihm nahe liegender weise erschloss, da er sich für ihn aus dem Zusammenhang des Tochterraubes leicht ableiten ließ. Denn seinem Jahresbuch 1.58 (4) ist zu entnehmen, dass er den Kenntnisstand über die innerfamiliären Zwistigkeiten nur den Worten von Segestes verdankt und von keiner anderen Person. So wusste Tacitus auch nur von Segestes, dass der vorher seine Tochter seinem Widersacher Arminius mit Gewalt weg genommen hatte. Es bedurfte also für Tacitus keiner besonderen Anstrengung mehr, daraus eine Belagerungssituation in der Form zu rekonstruieren, als dass Arminius nun wieder bestrebt war seine Angetraute erneut zurück zu holen. Gehen wir an der Stelle in die historische Tiefe der Zeilenforschung so dürfen wir annehmen, dass es nicht Segestes war, der die Begrifflichkeit einer Belagerung in die Welt setzte, sondern Tacitus, der es aufgrund seines Wissens und seiner Gedanken so vor Augen hatte. Tacitus legte also mittels seiner Jahrbücher der Geschichte seine Worte sozusagen in den Mund. Worte und Erklärungen die wir bei Segestes in dieser Form nicht finden. Denn Segestes erwähnte an keiner Stelle in seiner Reputationsrede die Tacitus im Jahrbuch 1.58 (1) veröffentlichte, dass man ihn belagert hätte. Tacitus erwähnte eine Belagerung an zwei Stellen. Unter 1.57 (1) soll es die Delegation so ausgedrückt haben, als sie Germanicus entgegen ritt bzw. ihm gegenüber trat. Und unter 1.57 (3) ist von Germanicus die Rede, der gegen Belagerer kämpfte. Das Wort Belagerer, Tacitus nannte es „obsidentes“, war demnach eine Wortschöpfung von ihm selbst. Aber „obsidentes“ könnte in diesem Zusammenhang auch noch eine andere Bedeutung gehabt haben. Denn in der Form von „obsidere bzw. obsideo“ kann man es auch als „irgendwo sitzen oder sich aufhalten“ auslegen. Und man kann darunter auch noch verstehen „auf etwas lauern oder etwas abpassen“. Und dann ist es schon nicht mehr das was wir uns heute so unter einer Belagerung vorstellen möchten und wie wir es uns mit einer Portion mittelalterlicher Raubritter Dramatik im Hinterkopf ausmalen. So ließe sich die Geschichte von der Befreiung auch anders auslegen und dann wären wir erneut auf nebulösen Pfaden unterwegs. In diesem Fall wäre es eine Version, die uns von einer Belagerungsvision abbringt. Denn nun könnte man den Worten von Tacitus einen anderen Sinn geben. Wir müssten dann allerdings von unserem traditionellen Denken abrücken und dürfen in den Worten von Tacitus keine Belagerung mehr erkennen. Natürlich hilft uns die Aufarbeitung dieser Geschehnisse nicht bei der Suche nach den Örtlichkeiten der Varusschlacht oder deren Verlauf, aber jede Schlacht hat ihre Vorgeschichte und wird nach dem sie geschlagen ist von 1000 Augen anders gesehen und bewertet. Wir möchten wissen mit welchen Menschen und somit auch welchen Charakteren wir es rückblickend zu tun haben und das Jahr 15 + fällt noch in die Phase der Nachbearbeitung zu dieser Schlacht und lässt Rückschlüsse zu die uns verstehen helfen. Aber warum halte ich es ausgerechnet für wichtig mich so lange mit der Frage „Belagerung oder nicht Belagerung“ aufzuhalten. Ich möchte es vorweg nehmen, denn in den vermeintlichen Belagerern könnte man auch jene Germanen erkennen. die den Chatten gegen Germanicus zu Hilfe kommen sollten. Aber darauf möchte ich im weiteren Verlauf noch etwas detaillierter eingehen. Wollen wir aus den Worten eine Belagerung samt Belagerungsring ableiten, dann hätte nicht Segestes die antiken Historiker in die falsche Richtung geleitet. Sondern es wäre auf den Chronisten Tacitus zurück zu führen gewesen, in dem er das Wort „obsidentes“ benutzte und es an anderer Stelle ähnlich beschrieb, weil er es für plausibel hielt. Ungeachtet dessen, ließ Segestes über seinen Sohn Segimund verkünden, dass er sich in einer Gefahrenlage befand. Gleich wie diese ausgesehen haben könnte, Segestes nahm die Existenz der Cherusker die ihren Marsch zu den Chatten unterbrachen zum Anlass, nutzte oder missbrauchte sie indem er daraus einen Grund machte sich ins rettende römische Lager abzusetzen. Und so passt auch alles nur so lange gut zusammen, wie man gewillt ist, es so aus den Worten von Tacitus heraus lesen zu wollen. Und so gehen wir alle heute immer noch davon aus, dass man den armen Segestes im Jahre 15 + wegen seiner Tochter belagern und möglicherweise aushungern lassen wollte. Aber wir wissen das der erdachte Belagerungsring immerhin so lückig war, dass es einer Delegation gelang ihn zu durchbrechen. Aushungern könnte man demnach streichen. Aber man kann auch dem historischen Einmachglas das Verschlussgummi abziehen um zu schauen, was man darin vor 2000 Jahren für die Ewigkeit haltbar machen wollte, was sich aber vielleicht auch anders interpretieren lässt. Fasst man es zusammen, so haben die Hofbeamten des Senats, worunter sich vielleicht auch Senatoren befanden die Aussagen des Segestes zur Varusschlacht geschickt in die Richtung einer an Varus ergangenen Warnung gelenkt und Tacitus weckte in uns die Vision Segestes wäre in seiner Burg belagert worden. So macht alles den Anschein, als ob man nur lange genug schürfen braucht um zu gegenteiligen Auffassungen zu gelangen. Müssten neu nachdenken und dann vielleicht auch einige Illusionen über Bord werfen. (02.06.2020)

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