Freitag, 13. November 2020
Velleius Paterculus - Der Mann im Hintergrund der Varusschlacht
Sie werden sich erinnern, Segestes der wandelnde Alptraum deutscher Frühgeschichte, der uns immer noch auf Schritt und Tritt verfolgt, wenn wir an diese Zeiten denken. Aber in diesem und im nächsten Abschnitt soll Paterculus nochmal die Hauptrolle einnehmen. Denn die Analyse seiner Niederschrift könnte uns nicht nur einen Einblick in den Verlauf der Varusschlacht geben. Sie kann uns auch dabei helfen den Verdacht zu erhärten, dass Segestes den Verrat nur erfand. So wird uns Segestes auch in diesem Kapitel nicht ganz aus seinen Klauen entlassen. Diese scheinbar untote Unperson schlechthin die möglicherweise auch noch in so mancher Sage ein verdecktes Weiterleben führt, drängt sich immer wieder ins Zentrum der Ursachenforschung. So fragt man sich, wie er es damals in Rom angestellt haben könnte, den auf ihn lauernden Gefahren und Fallstricken zu entrinnen. Er muss ziemlich talentiert gewesen sein und über die nötigen Showqualitäten verfügt haben, denn anders ist das Ergebnis kaum vorstellbar. Alles nur zum Schein und zur Wahrung seiner persönlichen Interessen sozusagen „in Zeiten schwerer See“ vorzugeben muss bühnenreif gewesen sein. Es gelang ihm offensichtlich in Rom eine perfekte und überzeugende Show seiner Loyalität abzuliefern, womit es ihm gelang seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Sicherlich wirkte es sich positiv aus, dass Kaiser Tiberius sich dem nicht entgegen stellte. So steht der Mensch Segestes wie man ihn sich vorstellt vor uns schon fasst wie ein Hologramm. Er führte ein bewegtes Leben, das viele Facetten der Theatralik kannte und man sieht ihn förmlich wie er in Rom auftrat und wie er sich dort verhielt. So könnte er sich auch den Stil eines geschickten Selbstdarstellers zugelegt haben, wofür es in Westfalen eine treffende Bezeichnung gibt. Denn für einen Menschen dieses Schlages hat man im Jargon einen speziellen Namen. Man könnte ihn mit dem Begriff „Schautermann“ charakterisieren. Ein Wort hart an der Grenze zum Schimpfwort. Und zwar da, wo so langsam der Spaß endet. Ein Schautermann war kein Dummer und keineswegs ein Narr, aber er übertrieb es, blähte sich, trug dick auf, war anfänglich noch unterhaltsam, machte sich aber schnell unbeliebt. Man ging einem solchen Mann möglichst aus dem Weg. Er gab Wissen vor und man wünschte sich derartige Leute nicht in seiner Nähe. Nach dem Motto mehr Schein als Sein zwang man ihn in die Lage sich in Rom gut verkaufen zu müssen. Denn er lief immer Gefahr wegen seiner Flucht aus Germanien verspottet zu werden und unglaubwürdig zu wirken. Und er wurde seiner Rolle gerecht. Eben ein Schautermann bis zuletzt, ein Angeber oder Aufschneider wie er sich vor dem römischen Volk und den ihn Befragenden mit dem Brustton der Überzeugung zur Schau stellte. Das Wort Schautermann oder Blender trifft es gut, die Bezeichnung ist alt und heute noch im Bergischen Land bis nach Ostwestfalen in Gebrauch. Allerdings nennt man den Schautermann im ostwestfälischen Raum um Paderborn und Brakel nicht Schautermann sondern Schautemann. Etymologisch könnte es sich im übertragenen Sinne aus dem altsächsischen „skauwon“, dem altengischen „sceawian“, vom niederländischen „schowen“, bzw. dem althochdeutschen „scowon“ für anschauen bzw. von zeigen und darstellen ableiten lassen. Obwohl es auch andere Deutungsversuche gibt. Segestes ist in Rom als Schauspieler bzw. Showman in eigener Sache unterwegs gewesen und hat dort seine eigene Show veranstaltet und sich erfolgreich zur Schau gestellt. Der geborene Schautermann, dem man in Rom alles glauben wollte, dem man aber in Westfalen schon kein Bier mehr ausgegeben hätte und um den es an der Theke schnell einsam geworden wäre. Vielleicht tut man ihm mit dieser Beschreibung auch unrecht, aber vieles spricht dafür. Aber zurück zu Paterculus. Die zeitliche Nähe in der er zum Varus Ereignis stand macht seine Überlieferung zu etwas Besonderem. Eine Konkurrenz zu parallel schreibenden römischen Zeitgenossen hatte er nicht zu fürchten, besser gesagt sind uns bis auf Strabo keine bekannt geworden. Strabo der 23 + verstarb und er, der bei seinem Tod 42 Jahre alt war, könnten sich gekannt haben. Man geht davon aus, dass Paterculus wie auch Strabo den Triumphzug für Germanicus im Jahre 17 + mit erlebte. Aber er berichtete nicht darüber. Man sollte daher annehmen, dass Paterculus mindestens den selben Kenntnisstand über den Triumphzug und das damit verbundene Geschehen besaß wie Strabo, der darüber berichtete. Und Paterculus könnte daher auch die germanischen Stammesnamen, von denen Angehörige im Zug in Ketten mit geführt wurden gekannt haben und ebenso dürften ihm die ehrwürdigen Germanen die auf der Tribüne saßen nicht nur namentlich, sondern auch persönlich bekannt gewesen sein. Und wenn Segestes der Mann war, der wie kein anderer über das Insiderwissen aus Germanien verfügte, so war Paterculus sein Pendant auf römischer Seite. Seinen gesellschaftlichen Aufstieg verdankt Paterculus wie es in der Antike häufig anzutreffen ist einer langen militärisch geprägten Familientradition. Sein Großvater war der Adjutant eines Befehlshabers, sein Vater war ebenfalls Offizier und er selbst stand in der Funktion eines Militärtribun im gehobenen Dienst. Er wurde in den Germanenkriegen zum Reiterpräfekten ernannt und diente bzw. kämpfte acht Jahre unter Tiberius in Krisenregionen wie in Pannonien und Germanien. Aber nicht nur das, er war später sogar Legat und damit ein mit umfangreichen Vollmachten ausgestatteter Kommandeur. Und somit auch ein Vertreter des römischen Kaisers in den Grenzprovinzen. Im Falle einer zivilen Laufbahn könnte man ihn schon fasst als einen Gouverneur oder auch Statthalter ansprechen. Ein Mann der sich einiges heraus nehmen durfte, solange er mit der höchsten Instanz dem Kaiser nicht in Widerspruch geriet und das wurde an keiner Stelle erkennbar. Es musste also in die Zeit gepasst haben, dass er sich was allgemein als unschicklich galt gestatten durfte, einem ehemaligen Feldherrn und Statthalter des Imperiums wie Varus es war sogar noch nach seinem Tod Versagen vorwerfen zu können. Paterculus der viele Wochen, Monate und sogar Jahre an der Seite von Tiberius ritt, der mit ihm am Immensum Bellum teilnahm und später auch mit ihm in Pannonien kämpfte, dürfte auch beratenden Einfluss auf ihn und daher einen Anteil am einseitig von Tiberius verfügten Waffenstillstand im Herbst 16 + gehabt haben. Vor Paterculus konnte man nicht viel Geheim halten, denn er hatte seinen Platz in der Mitte des Staatsapparates. So spricht die Faktenlage vielleicht sogar dafür, dass neben Sejan vielleicht auch er selbst an den Gesprächen mit Segestes teilgenommen haben könnte. Segestes könnte ihm auch schon seit der Zeit persönlich bekannt gewesen sein, als im Jahre 5 + der große germanische Krieg, der Immensum Bellum zu Ende ging. So begegneten sich im Jahre 17 + in Rom möglicherweise zwei alte Bekannte wieder. Ob man sie alte Freunde nennen darf, würde der puren Spekulation entspringen. Paterculus könnte man daher guten Gewissens unterstellen, dass er die großen Zusammenhänge gekannt haben muss, soweit sie über die Schlacht nach Rom durchgedrungen sind. Es lässt sich einigen zum Teil tief ins Detail gehenden Ausführungen entnehmen, dass er auch über manche Ereignisse informiert war, die sich auf den unmittelbaren Hergang der Varusschlacht bezogen. Gäbe es da nicht noch eine andere Sichtweise, so sind Zweifel erlaubt, ob sein Kenntnisstand wirklich so gut war wie man annehmen könnte. Betrachtet man nämlich das, was Beatus Rhenanus von ihm 1515 in die Hände fiel, so kommt es uns in der Summe doch recht mager vor. Der Recherche nach hat Paterculus seinen Bericht vor der Hinrichtung des Prätorianerpräfekten Sejan verfasst, als sich dieser noch auf dem Höhepunkt seiner Macht befunden haben soll. Paterculus muss es also nicht unmittelbar vor Sejans Tod nieder geschrieben haben. So kann man zwar den Zeitpunkt seiner Aufzeichnungen auch noch eine unbestimmbare Zeit zurück datieren. Es lässt sich daraus aber auch noch etwas anderes schlussfolgern. Denn das von ihm nieder Geschriebene bezogen auf die Varusschlacht könnte sogar noch älteren Datums gewesen sein. Vereinfacht ausgedrückt, schrieb er es zwar Ende der 2o er Jahre nieder, aber sein Wissen über die Varusschlacht könnte er sich auch schon beispielsweise in den Jahren zwischen 17 + und 20 + zugelegt haben, es eben nur später nieder geschrieben haben. Insgesamt lässt sich anhand seiner Zeilen resümieren, dass das was er Ende der 20 er Jahre zu Beginn des 1. Jahrtausends zu Papier brachte inhaltlich etwas enttäuschend ausfiel. Denn nach alledem, was sich über ihn rekonstruieren lässt sollte man annehmen, dass selbst eine Kurzfassung aus seiner Hand schon umfangreicher hätte ausfallen müssen. Aber man darf ihm zugute halten, dass er nur wenige Aspekte hervor hob, denn er hatte uns entsprechend der Textstelle 119.(1) ein umfassendes Werk über den Schlachtverlauf angekündigt. Er wollte also zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher werden. Sicher ist, dass Paterculus um 30 + noch lebte und er in dieser Zeit um die 50 Jahre alt gewesen sein müsste, also auch nicht mehr der Jüngste war. Man darf also rätseln wann er beabsichtigte sein Hauptwerk anzugehen. Merkwürdig erscheint jedoch, dass Paterculus wenn man den „Varus Teil“ seiner „Historia Romana“ in der Zusammenfassung betrachtet verhältnismäßig wenig über die eigentliche Schlacht zu berichten wusste. Zumal immerhin bis zu dem Zeitpunkt als er es nieder schrieb immerhin etwa 2o Jahre verstrichen sind. Eine lange Zeit in der er schon hätte mehr über die Schlacht erfahren haben müssen, als er uns hinterließ. Oder hatte er nur das fest gehalten, was er in seiner Vorabfassung für elementar bedeutsam und wesentlich hielt. Möglicherweise war ihm vieles andere nicht wichtig. Oder sollte man sogar annehmen müssen, dass Paterculus über die Schlacht gar nicht mehr wusste als das, was er verschriftete. War sein Wissenstand selbst 2o Jahre nach der Varusschlacht noch so mager, dass es für ihn nicht mehr zu berichten gab. Möglicherweise begann er sein Hauptwerk in diesem Alter auch gar nicht mehr, da es ihm nicht gelang weitere Erkenntnisse über den Schlachtenverlauf in Erfahrung zu bringen. Oder unterließ er es aus anderen Gründen. Vielleicht wollte er wegen der Staatsraison dieses traurige Kapitel gar nicht mehr vertiefen. Denn auch nach 20 Jahren war alles noch recht frisch, manche Teilnehmer könnten noch gelebt haben. Sie hätten vielleicht auch Einspruch erheben, oder sogar für Varus eine Lanze brechen können und wer wollte von diesem Drama alles noch schwarz auf weiß nach lesen wollen und alte Wunden aufreißen. Die mysteriösen Senatsakten wird er gekannt haben, er könnte aber auch ihren Inhalt verschwiegen haben und ließ nur das wenige zu, was auch im Sinne seines Kaisers war und er interpretierte es so, wie er es für richtig hielt. Hätte er es sich anders überlegt könnte es sich so angehört haben, wie es Cassius Dio rund 200 Jahre später formulierte. Aber er verzichtete darauf den einst so stolzen Legionen noch eine historische Grabrede nach zu rufen und wollte nicht die Rolle des Kriegsberichterstatters einnehmen. So scheint es nur so, als ob Paterculus nur wenige knappe Worte für die Schlacht übrig hatte, denn er umriss nur das karge offizielle Wissen, wie es sich in den ersten 20 Jahre nach der Niederlage herum gesprochen hatte. Aber über das Gesamtwissen über das er verfügte, schwieg er sich aus. So blieb sein Hauptwerk möglicherweise auch gar nicht verschollen, denn es hatte nie existiert. Also bleibt es an uns aus seiner Überlieferung das heraus zu lesen was für die Aufarbeitung des Verlaufs und der Örtlichkeit der Varusschlacht von Nutzen sein könnte. Kaum ein anderer Römer vielleicht mit Ausnahme von Tiberius kannte Germanien besser als Paterculus. Und er konnte als ein Front erfahrener Militarist vieles aus dem militärischen Blickwinkel heraus gut bewerten, was auch seinem Naturell entsprach. Zu Zeiten des Immensum Bellum überquerte er noch gemeinsam mit dem Feldherrn Tiberius die „germanische Julier Passhöhe“ nahe den Lippequellen von Schwaney den „caput Juliae“ und stieg mit ihm ins Nethetal ab um später die Weserauen zu erreichen, wo etwa vier Jahre später der Feind stehen sollte. So kannte er den späteren Großraum der Varusschlacht aus eigener Anschauung und er kannte auch die Wege die vor ihm schon Drusus nutzte. Und da Paterculus in Rom auch mit Germanicus zusammen traf könnte er auch noch vieles mehr erfahren haben. So zum Beispiel wo man damals für den verstorbenen Drusus einen Altar errichtet hatte und wo für die in der Varusschlacht gefallenen Legionäre ein Grabhügel errichtet wurde. Wer wollte da noch daran zweifeln, dass Paterculus zu jenen Männern gehörte, die auf der Höhe des damaligen Wissenstandes zur Varusschlacht waren, denn alle Großen der Zeit standen in unmittelbarem Kontakt zu ihm. Und nicht nur das, denn sein Wissen beruhte auf dem umfassenden Kenntnisstand beider Seiten. Er besaß somit die besten Voraussetzungen um an den Stellschrauben der römischen Innenpolitik im Sinne des Kaisers seines Freundes Tiberius mit drehen zu können. Was uns von ihm vorliegt erscheint vor diesem Hintergrund bewertet wie ein vorläufiger kurzer Abriss oder Rapport und so tun sich noch viele Fragen auf. Nicht nur die, warum er sich so lange Zeit damit ließ sein Wissen zu verschriften oder warum er so wenig über den gesamten Verlauf der Varusschlacht schrieb. Strabo sei es gedankt, dass er uns die Namen der Triumphzugteilnehmer überlieferte, die wir von Paterculus nicht erfahren haben, womit er sich im historischen Sinne einen bleibenden Namen machte. Aber erst Paterculus legte den Grundstock für unseren erweiterten Kenntnisstand. Strabo verfasste sein Werk möglicherweise erst im Jahr nach dem Triumphzug also 18 +. Aber im Gegensatz zu Paterculus konnte Strabo nichts zu den Ereignissen in Ostwestfalen beitragen. So fiel Paterculus auch mangels verschollener Texte wie etwa jene von Plinius dem Älteren und möglicherweise auch anderen Historikern eine um so bedeutsamere Rolle zu. Er war die römische Schlüsselfigur zur Varusschlacht und Paterculus sollte auch für lange Zeit der letzte sein, der uns wenigstens etwas über die Schlacht sagen konnte. Die lange Phase danach in der die Quellen schwiegen und sich die Ruhe über das einstige Schlachtengelände auszubreiten begann dauerte rund 90 Jahre. Sie setzte im Jahre 30 + ein und endete um das Jahr 120 + mit den Schriften von Tacitus und dem in etwa zeitgleich zu ihm berichtenden Florus. Und während Tacitus uns „nur“ den Ort des Geschehens überlieferte, war es das Verdienst von Florus, der uns nach Paterculus die ersten wichtigen Fakten zur Varusschlacht mitteilen konnte. Erst bei ihm lesen wir wieder Neues über Varus und seine Schlacht. Die Arbeit von Paterculus erhält jedoch weiteres Gewicht durch die bei ihm vorhandene Kompetenz, sowohl in historischer als auch in militärischer Hinsicht. Günstige Voraussetzungen und eigentlich wie geschaffen um von ihm plausible Antworten und Expertisen über die kriegerische Begebenheiten erwarten zu dürfen. Aber wir hoffen vergeblich denn Paterculus war nicht der geborene Historiker und sah daher darin auch nicht seine originäre Aufgabe, auch wenn man ihn später zu Recht so nannte. Irgendwann fühlte er sich dann doch dazu berufen zu schreiben und er entdeckte vermutlich erst im fortgeschrittenen Alter seinen Hang zur geschichtlichen Nachbearbeitung. Aber in Sachen Varusschlacht reichte es nur für den besagten Vorabbericht, denn die angekündigte große Aufklärungsschrift blieb aus. Vielleicht verordnete er sich aber auch selbst eine Nachrichtensperre solange, bis ihm die Zeit reif erschien etwas zu Verlautbaren. So notierte und interpretierte Paterculus nicht nur seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, sondern widmete sich in weiten Teilen auch der gesamten römischen Geschichte. Aber hier zählt das Varusereignis und da war Paterculus ein wenig gnädig. Denn er gönnte uns, dass wir schon mal einen vorzeitigen Blick in seinen Wissensfundus werfen durften. Er hatte ihn nur einen Spalt breit geöffnet, der aber viel Raum für neue Schlußfolgerungen zulässt. Und dann wollte er irgendwann als er die 50 schon überschritten hatte, mit seinem Hauptwerk beginnen, das wir allerdings nie zu Gesicht bekamen. Was er uns offenbarte war für ihn auch nicht riskant, denn Kaiser Tiberius bot ihm für alles den nötigen Rückhalt. In dieses Szenario fügte sich auch Segestes der Urheber so vieler Deutungsversuche ein, der seinerzeit in Rom ins gleiche Horn blies, in dem auch er auf Konformität mit dem Kaiserhaus achten musste. Denn auch Segestes schob die Pietät beiseite und warf selbst dem verstorbenen Varus noch nach, seine warnenden Worte ignoriert zu haben. Nach Dichter, Astronom und Geograph befasste sich aber nun ein Militarist, der zum Historiker mutierte mit der Aufarbeitung. In alle Betrachtungen zu rückwärtigen Ereignissen spielen immer Querüberlegungen hinein. Ihnen nach zu gehen und keine auszulassen ist eine erstrebenswerte Grundvoraussetzung und ein hehres Ziel, will man dem gesamten Kontext der Varusschlacht gerecht werden. Die berühmten Fragen nach dem „wenn und aber“ oder dem „für und wider“, sollten daher an keiner Stelle zu kurz kommen, will man sich seinen klaren und nüchternen Blick nicht verstellen. Schließlich sollten die Erkundung des Schlachtenverlaufs und der Örtlichkeit und alles was dazu beitragen kann bei allen Recherchen immer an vorderster Stelle stehen. Den Abstand zu kennen, wieviel Zeit nach der Varusschlacht verstrich bis Paterculus seine Zeilen nieder schrieb hebt oder senkt auch die historische Qualität seiner Arbeit. Man nennt es den „Terminus post quem“ und es ist der wissenschaftlich fixierte Zeitpunkt an dem sich seine Niederschrift fest machen lässt. Die Dauer des Konsulats des Marcus Vinicius und der Hinweis auf den Prätorianer Sejan, den er verherrlichte bevor dieser 31 + hin gerichtet wurde bieten dafür wie schon dargestellt die nötigen Anhaltspunkte. Ihnen lässt sich entnehmen, dass Paterculus im Jahre 30 + noch gelebt haben muss, er also 30 + oder früher aber nicht später seinen Bericht über Varus verfasst haben könnte. Man sollte annehmen dürfen, dass alle seine Überlieferungen demnach recht gut den angesammelten Wissensstand der Zeit zwischen den Jahren 9 + und 30 + wider spiegelten. Salvatorisch ließe sich noch anmerken, dass man immer voraus setzen muss, dass er früher dokumentierte ihm unsicher erschienene Aussagen bis zum Schlusskapitel ordnungsgemäß und das möglicherweise im Jahre 30 + revidiert hat. Er könnte sich also auch in diesem Jahr immer noch in einer guten gesundheitlichen Verfassung befunden haben. Bedauerlicherweise findet sich aber in seinem schriftstellerischen Lebenslauf ein Abschnitt über den wir gerne mehr gewusst hätten. Eine Zeitspanne die leider ausfallen muss, da sie in die Zeit fiel, in der die Varusschlacht statt fand und er nicht vor Ort war. Eine turbulente Phase in der wir uns historisch betrachtet gewünscht hätten ein Mann wie Paterculus wäre selbst zum Zeugen oder gar zum Mitwirkenden der Schlacht geworden. Durch seine Abwesenheit ausgerechnet in jenem denkwürdigen Schicksalsjahr 9 + in Ostwestfalen, entstand oder hinterließ er uns aus nachrichtlicher Sicht betrachtet eine historische Leere. Aber er bemühte sich sie zu schließen bzw. kündigte dies zumindest an. Was er an Wissen sammelte also anderen Quellen entnahm, durch eigene Vorstellungen und Gedanken oder Erfahrungswerte ergänzte konnte daher immer nur halbwegs und daher unbefriedigend gelingen. Er trug wie man sich denken kann sicherlich viel an Wissen seiner Zeit zusammen, aber er verschriftete nur wenig davon. Das was uns vorliegt brachte er in einen Kontext und er versuchte, wie es später auch Cassius Dio und andere taten dem Text einen Erzählstrang zu verleihen. Bis zum Jahre 9 + war er kriegsbedingt in Pannonien gebunden. In Germanien ist er erst wieder für die Zeit nach der Varusschlacht, dann aber bis etwa 11 + historisch bezeugt. Wenn er nicht sofort nach der Katastrophennachricht des Jahres 9 + von Pannonien an den Niederrhein aufbrach, hielt er sich möglicherweise zusammen mit Tiberius noch kurzeitig in Rom auf, der dort aufgrund der „varianischen Staatstrauer“ auf seinen Pannonien Triumph vorerst verzichtet hatte. Gemeinsam brach man dann und das nahe liegender weise im zeitigen Frühjahr 10 + nach Germanien auf um dort die neu entstandene Lage nach dem Inferno im Saltus zu sondieren und die Grenze zu festigen. Man kann sich vorstellen in welchem Zustand sich ihnen im Frühjahr 10 + nur wenige Monate nach der Varusschlacht die Rheingrenze zwischen Köln und Xanten präsentierte. Die dortigen Besatzungstruppen unter Asprenas werden auf Tiberius und Paterculus und damit auf neue Befehle gewartet haben, denn die Unsicherheit war groß. Ich hatte Paterculus der Phase III zugeordnet, da er sich dem zeitlichen Ablauf nach bereits auf das Wissen bzw. die Quelle Segestes hätte stützen und sie sich hätte zunutze machen können, da sie ihm seit seinem Erscheinen in Rom im Jahre 17 + zur Verfügung gestanden haben könnte. Und das er sie auch hätte einsehen können dürfte unstrittig sein, denn er besaß den nötigen Rang und die Würde und damit den Zugang um das von Segestes „Hinterlassene“ bzw. „zu Protokoll“ gegebene erfahren zu dürfen. Aber was für alle Schreiber der Zeit galt, galt auch für Paterculus. Auch er konnte nur das verwerten was der germanische Wald dank dem flüchtigen Segestes frei gab und was ihm Tiberius und Germanicus und andere später noch sagen konnten. Sein umfangreiches Überlieferungswerk zu strukturieren ist nun Herausforderung und Aufgabenstellung zugleich um daraus die Fakten zur „Clades Variana“ heraus zu filtern und zu versuchen seine Quellen zu enttarnen aber auch um das tatsächliche Geschehen von der Eigeninterpretation zu trennen und teilweise zu enträtseln vor allem aber um es unterscheidbar machen zu können. (13.11.2020)

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