Sonntag, 26. April 2020
Stehvermögen und Wortgewalt von Segestes waren beeindruckend. Seine „Befreiung“ im Jahre 15 + wurde zur Quelle deutscher Frühgeschichte
Der Lebensgeschichte des Segestes so weit man sie rekonstruieren kann, lässt sich ein wankelmütiges und schwer definierbares Lavirieren und Taktieren zwischen den Fronten und den großen Wortführern der Zeit entnehmen. Von Augustus über Tiberius und Varus bis Germanicus lernte er sie alle kennen oder stand mit ihnen wie auch zu den zahlreichen römischen Legionskommandanten zumindest in Kontakt. Und auf germanischer Seite war es wohl ebenso und sicherlich zählte auch Marbod mit dazu. Was diesen erlauchten Bekanntenkreis anbelangte, so konnte es wohl nur noch Arminius mit ihm aufnehmen. Seine Charakterfestigkeit ist daher umstritten, so dass die häufigen Bezüge, Kommentare und Überlieferungen die uns über ihn und sein Verhalten vorliegen zwangsläufig in der Moderne zu einer verzerrten Wahrnehmung der germanischen Geschichte geführt haben bzw. führen mussten und fragwürdig sind. Hinzu kommt, dass der Mann aufgrund seiner Taten in Rom unter erheblichen Rechtfertigungsdruck geraten sein dürfte, was seine Seriosität zusätzlich untergraben hat. Man würde heute sagen, seine Aussagen müssen daher wegen der „Besorgnis der Befangenheit abgelehnt“ werden. Aber wer sich mit der Entstehungsgeschichte, dem Verlauf und dem Ausgang der Varusschlacht beschäftigen möchte, der kommt an ihm nicht vorbei und darf ihn keinesfalls außen vor lassen, wenn er sich eine Meinung bilden will. Aber die Ereignisse im Verlauf des Jahres 15 + waren nicht minder spannend, als die des Jahres 9 + in dem die Varusschlacht statt fand. Denn in diesem Jahr 15 + loderten die Feuer des Krieges an vielen Stätten zwischen Eder, Lippe und Weser auf. Gekennzeichnet von zahlreichen Gewaltakten kämpfte sich Germanicus nun schon das zweite Jahr in Folge und dieses Mal sogar in zwei getrennt voneinander geführten Feldzügen, einmal im Frühjahr und einmal im Sommer durch die Gaulandschaften der germanischen Stämme. Aber in der Frühjahrszeit des gleichen Jahres noch während seines ersten Feldzuges kam es zu schwer interpretierbaren Turbulenzen, die auch die Führungsschwäche von Germanicus offenbaren. Man kann den Eindruck bekommen sein Frühjahrsfeldzug war der erneute Offenbarungseid für sein Versagen als Feldherr. Denn das was uns die Forschung darüber glaubhaft machen will, muss nicht zwangsweise der Realität entsprochen haben. Ein angeblich spontaner und kräftemäßig schwach besetzter Angriffskeil von Mainz ausgehend und ein vor ihm flüchtendes Chattenheer dürfte nicht der alleinige Grund für den vorzeitigen Abbruch des Frühjahrsfeldzuges gewesen sein. Man kann auch zu anderen Schlussfolgerungen gelangen. Vielmehr könnte man auch annehmen, dass die Verluste bei den Chatten größer waren als zugegeben, er ein Anrücken der Cherusker befürchten musste und er sich deshalb mit den Legionen des Caecina vereinigte, nach dem es ihm gelang gerade erst selbst einen Angriff der Marser scheinbar nur mit Mühe und Glück abwehren zu können. Folglich das mögliche Anrücken der Cherusker den Feldherrn Germanicus aufgrund seiner Unterzahl zwang nach Westen in Richtung Caecina auszuweichen. Erst mit der Zusammenführung der Legionen vermutlich am Mittellauf der Diemel schuf Aulus Caecina Severus gemeinsam mit Germanicus wieder eine neue Ausgangsbasis und ein verbessertes Kräfteverhältnis auf Seiten der Römer. Germanicus hatte das ganze Unternehmen im Frühjahr 15 + schlecht vorbereitet und formierte daher seine Truppen um im Sommer des gleichen Jahres einen erneuten Vorstoß ins germanische Kerngebiet an der Weser zu wagen. Er beendete jedenfalls seinen Feldzug mitten in der „besten Jahreszeit“ in der man Kriege und Schlachten führte und setzte sich mit den verbliebenen Truppenteilen an den Niederrhein ab, von wo aus er seinen Sommerfeldzug plante. Aber es ist müßig in diese Diskussion einzusteigen, da diese Ereignisse mit der Varusschlacht nur im weiteren Sinne zusammen hängen. Es wäre ein gänzlich misslungener Frühjahrsfeldzug gewesen, wenn es nicht doch noch für ihn einen Prestigeerfolg gegeben hätte. Denn einer der bedeutendsten Germanenfürsten jener Zeit servierte sich Rom selbst auf dem Silbertablett. Und dieser Mann platzte nun mitten in ein ausklingendes Kampfgeschehen hinein und betritt völlig unerwartet die antike Weltbühne, womit er zur Quelle der deutschen Frühgeschichte wurde. Denn er bescherte uns Erkenntnisse über unsere Vorfahren wie wir sie nicht erwartet hätten. Und es war kein anderer als der Cheruskerfürst Segestes der sich im Frühjahr 15 + damals auch unverhofft für sein eigenes Volk und erst recht für die heutige Geschichtsforschung freiwillig den Händen des Imperiums auslieferte. Gründe dafür wurden zwar überliefert, lassen aber auch berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt aufkommen. Die kritische Gemeinschaft der Forscher hat sich nun schon seit längerer Zeit die Aufgabe gestellt auch den möglicherweise anderen Beweggründen für sein Verhalten auf die Spur zu kommen. Denn Segestes war eine facettenreiche Gestalt und er war nicht nur Zeitzeuge, sondern in vielerlei Hinsicht auch ein historischer Gewährsmann. Dies aber nur insoweit, wie er uns bei der historischen Aufarbeitung hilfreich ist und sein Tun nicht einzig seinen persönlichen Interessen diente. Seinem Verhalten auf die Spur zu kommen bedeutet die Trennlinie zu erkennen; wo er für sein persönliches Wohlergehen agierte und wo er unabhängig von sich unser Wissen über die Historie erweiterte und woran wir Fakten und Eckpfeiler für die Geschichtsforschung fest machen können. Wollen wir uns einen Eindruck verschaffen, können wir dafür nur die mäßig vorhandenen antiken Überlieferungen nutzen. Was wir über ihn wissen verriet er der Nachwelt selbst als er sich im Jahre 17 + einigen römischen Staatsbeamten offenbaren musste. Erst dank ihrer schriftlichen Aufzeichnungen die über ihn im Jahre 17 + verfasst wurden, sind wir überhaupt imstande über ein eigenes Kapitel „Segestesforschung“ nachzudenken. Unübersehbar ist die Tatsache wie viele antike Historiker an der Person des Segestes nahezu fest kleben, auf ihn fixiert sind und sich vielfach auf ihn beziehen. Ob es sein Wirken im Zusammenhang mit der Varusschlacht im Jahre 9 + war, sein rätselhaftes Verhalten, das er im Zuge seiner Befreiung im Frühjahr 15 + an den Tag legte oder ob es sich um die Dinge handelte die sich 17 + im Zuge des Triumphzug ereigneten an dem er teilnahm bzw. um das was er im gleichen Jahr über sich, seine Denkweise aber auch seine Verhaltenszwänge preis gab. Immer wieder stand Segestes für die antiken Historiker im Mittelpunkt und faszinierte sie ab dem Jahr 9 + bis zum Jahr 17 +. Immerhin acht lange Jahre. So wurde aus ihm ein Fossil im Reigen deutscher Geschichtsforschung und sicherte sich damit einen ewigen Platz in den Schlagzeilen der Weltliteratur. Es war das Jahr 17 + in dem es ihn ungewollt bis in die Säle der Schreibkundigen des Imperiums verschlug und ein Jahr woran die Geschichtsschreibung ihre Uhren ausrichten müsste. Wäre es Rom gelungen auch noch Arminius irgendwann einmal zur Rede stellen zu können, in dem man ihn vielleicht gefasst hätte, wäre es wohl zu einer völlig anderen und abweichenden geschichtlichen Aufarbeitung gekommen. Arminius dann nach seinem Grund für den Kampf gegen Varus befragt, hätte möglicherweise zu der gleichen Antwort gegriffen, wie sie der Sohn des Dalmaters Bato dem Feldherrn Tiberius im Spätsommer 9 + gab als er sagte, „Ihr tragt die Schuld daran, schicktet ihr doch zu euren Herden als Wächter nicht Hunde und Hirten, sondern Wölfe“. Eine Antwort, die Tiberius offenkundig beeindruckte. Ich stellte im letzten Kapitel die Frage in den Raum, ob und wenn ja wie weit Segestes auch die Ereignisse die sich im Frühjahr 15 + in seiner Burg zutrugen gegenüber dem römischen Tribunal in seinem Sinne positiv zurecht rückte, also „aufhübschen“ musste. Denn auch sein Verhalten im Frühjahr 15 + wirft Fragen auf, die seinem nebulösen Auftreten im Jahre 9 + nahe kamen. Denn es blieben in der kritischen Jury des Senats auf beide Jahre bezogen Ungereimtheiten die Segestes ausräumen musste. Segestes können wir nicht unterstellen er hätte mit seinem Dazutun die geschichtlichen Abläufe verändert, dazu fehlen uns die konkreten Anhaltspunkte, aber er hat zweifellos selbst Geschichte geschrieben. Aber auch die weiteren Recherchen um seine Person werden noch viel Akribie erfordern was mehrere Betrachtungswinkel auf ihn nötig macht. Segestes wird uns also noch eine Zeit beschäftigen. Zudem will man Segestes ja auch nicht noch mehr Unrecht tun, als es die Gelehrtenwelt bereits über ihm ausgoß. Es wird also eine reizvolle Aufgabe sein auch den Dingen des Jahres 15 + nachzugehen bevor dann in den folgenden Kapiteln wieder die Varusschlacht in den Vordergrund rückt. Denn alle historischen Informationen die sich auf Segestes zurück führen lassen geben Anlass sie zu hinterfragen und dazu gehören in der Tat alle Hinweise die uns die antiken Historiker explizit über ihn und das bevorzugt im Zusammenhang mit der Varusschlacht hinterließen. Nachdem ich bereits einigen Argumenten hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit nach gegangen bin und noch weitere aufgreife um die These zu erhärten, dass die Segestes Äußerungen zumindest anzuzweifeln wenn nicht gar falsch sind, geht es in diesem Abschnitt zuvorderst um das Frühjahr 15 +. Unser Wissenstand, der sich auf die alten Quellen stützt, die teilweise auf recht seltsame Weise zu uns durch gesickert sind, wird uns also unweigerlich auch in diesem Kapitel begleiten. Aber wer einen Eisberg erklimmen möchte braucht unter den Sohlen die richtigen Nägel. So müssen wir wie gewohnt dem nach gehen was uns die antike schreibende Zunft auf Basis der Taten der damals aktiv handelnden Personen an Wissenswertem hinterließ. Im Zusammenhang mit der Analyse der Ereignisse im Frühjahr 15 + kommt uns ein Umstand zugute, der uns die Rekonstruktion und die Zuordnung erleichtern hilft, denn alle Ereignisse im Frühjahr 15 + standen räumlich in enger Verbindung zueinander. Er dient aber auch unserem Verständnis und Einfühlungsvermögen, denn wir wollen uns auch hinein denken können mit welcher Topographie es die Menschen von damals zu tun hatten. So erkennen wir auch erst bei genauem Hinschauen das dichte Geflecht an Verbindungslinien zwischen den lokalen Konfliktzonen der damaligen Zeit. Ereignisse die sich alle unweit voneinander zutrugen und die sich besonders im Frühjahr 15 + zusammen ballten. Allesamt militärische Scharmützel, die sich auf einen recht überschaubaren geographischen Raum konzentrierten. Mit Bad Karlshafen an der Weser im Mittelpunkt, wo sich heute die drei Bundesländer NRW, Niedersachsen und Hessen berühren liegen die Schauplätze der Schlachten im Abstand von nur wenigen Tagesmärschen relativ dicht beieinander. Von Bad Karlshafen bis Einbeck – Vogelbeck wo ich die Segestes Burg vermute sind es nur 37 km. Bis Schwaney in dessen nähe ich Aliso verorte sind es ebenfalls 37 Km. Bis Metze, wo Germanicus den Chattenhauptort verwüstet haben könnte sind es 49 km und bis Marsberg, wo Caecina gegen die Marser gekämpft haben könnte sind es 46 km. So rücken uns plötzlich alle Örtlichkeiten näher und werden für die Logistik und unser Vorstellungsvermögen greifbarer. Wir neigen für gewöhnlich dazu uns damit schwer zu tun, wenn wir uns lange zurück liegende Begebenheiten gegenwärtig machen möchten und wir sie den uns gut bekannten und geläufigen Örtlichkeiten zuordnen wollen. Insbesondere für das Jahr 15 + gilt daher der Leitsatz „Geschichte vergeht - Landschaften überdauern“. Denn auch die Kämpfe zweier so unterschiedlicher Zivilisationen fanden in diesem Jahr wieder mitten in Deutschland statt und nicht auf dem Mond. Es geschah quasi mitten unter uns, fasst schon vor der Haustür und vor unseren eigenen Augen. Das zu verstehen, also das weit zurück liegende an sich heran zu lassen, um es dann im alltäglichen und in der unmittelbaren Umgebung wieder aufzuspüren und es in diesem Sinne zeitlos zu machen, stellt eine visionäre Kunst dar. Sich vorstellen zu wollen, dass man einst den sterbenden Drusus auf einer Bahre kurzzeitig dort abgesetzt haben könnte, wo sich heute über dem Asphalt die Einkaufswagen der Firma Lidl in Brakel drängen, lässt uns förmlich zusammen zucken. Dieser geographische Exkurs lässt uns auch ein Gespür dafür entwickeln, warum die Cherusker es vorzogen haben sollen ihren Rettungseinsatz bei den Chatten abzubrechen und vielleicht nur bis nach Einbeck kamen. Es ist diese verflixte Textstelle 1.56 (5) in der uns Tacitus überlieferte, dass die Cherusker ihre Unterstützung für die Chatten zurück gezogen haben, weil ihnen Caecina den Rückweg hätte abschneiden können, obwohl Germanicus bereits von sich aus von den Chatten abließ und den Rückmarsch antrat. Andererseits kann es auch eine beschönigende Darstellung aus der Feder von Tacitus gewesen sein. So könnte es Germanicus gescheut haben die in die Wälder ausgewichenen Chatten in Verbindung mit den anrückenden Cheruskern in einer Umkehrbewegung plötzlich gegen sich zu wissen. Die damaligen Kommunikationswege im offenen Feld und das nicht immer zuverlässige Einschätzen der gegenseitigen Kräfteverhältnisse wird vor diesem Hintergrund manche Entscheidung rätselhaft erscheinen lassen. Aber es verdeutlicht uns auch, wie nahe Germancius noch im Grenzgebiet zu den Cherusker operierte und unweit der Segestes Burg gestanden haben könnte, als die Segimund Delegation bei ihm eintraf. Und man kann sich zudem plausibel machen, welchen Rückweg Germanicus von Metze nördlich der Eder aus an den Niederrhein einschlug. Aber wie immer hinterlässt vieles mehr Fragen als Antworten, so verlief das Jahr 15 + nicht minder verwirrend als das Jahr 9 + in dem Varus starb. Um es besser zu verdeutlichen sei der Hinweis gemacht, dass dazwischen nur sechs Jahre lagen und die meisten die das Jahr 9 + überlebten, wohl auch noch 15 + lebten. So weit ein kleiner Rückblick in die Geographie passend zur Zeit. Der weitere Verlauf erfordert die Miteinbeziehung von Germanicus und Segestes. Sich mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten zu beschäftigen, aber auch mit den anderen Personen von denen wir hörten kann aus der alten Historie einen unterhaltsamen Stoff machen. Insbesondere diese beiden Personen und sozusagen ihre Biographen Strabo und Tacitus sollen gegenübergestellt werden. Aber natürlich auch Arminius der omnipräsente Germanenfürst. Strabo schrieb bzw. veröffentlichte seine Geographie in griechischer Schrift und das tat er wie ich vermute im Jahre 18 +. Sie reicht zurück bis zur römischen Niederlage gegen die Parther 53 – bei Carrhae wie man aus einem Hinweis ableiten kann. Er erwähnte die Kämpfe Roms gegen keltische aber auch germanische Stämme, wie etwa die Sugambrer. Kriege die noch alle vor der Zeitenwende geführt wurden. Er stellte dabei, wie es sich auch für einen Geographen gehört, einen Bezug zu den besonderen landschaftlichen Strukturen und Besonderheiten in den jeweiligen Regionen her in denen gekämpft wurde. Fand die Auseinandersetzung in wüstenähnlichen Gebieten statt, dann boten sich die Senken an, um sich vor den Blicken des Gegners zu schützen, so wie es in Carrhae geschah. Waren es wie in Germanien die Moore, Sümpfe und Wälder, so ließen sich diese gut in die Verteidigung mit einbeziehen. Strabo war ein nüchtern denkender Stratege und übersah daher auch nicht die kampftaktische Bedeutung die sich dahinter verbarg. Naturräume die ihre eigene unterstützende Wirkung entfalten konnten, wenn man sie nur zu nutzen wusste. Was natürlich sowohl Angreifer als auch Verteidiger begünstigen konnte, wenn sie im Krieg standen und sich schützen mussten. Aber er stellte einen Zusammenhang her indem er sie insbesondere den angegriffenen und oft benachteiligten Völkern zubilligte. Für jene Menschen, die in den teils unwirtlichen Gegenden lebten, war es die vertraute Umgebung, während sie für den Gelände unkundigen Feind wie in jedem Krieg schnell zur Falle werden konnte. Strabo prägte für die Historiker die auf ihn folgten den hier vereinfacht wieder gegebenen aber äußerst zutreffenden Satz, von den Einheimischen, er nennt sie Barbaren, „die die Natur für sich kämpfen ließen“ und besser lässt es sich auch kaum ausdrücken. Und die damals noch vielfach sich selbst überlassene Natur in Ostwestfalen und Südniedersachsen half in der Tat kräftig mit, wenn man im Kampf gegen Rom erfolgreich sein wollte. Nicht nur dem Stamm der Cherusker verhalf sie mehr als einmal aus ihr taktischen Nutzen zu ziehen. Denn dank der zwölf Kilometer langen schroffen Egge zwischen Neuenheerse und Borlinghausen, dem sumpfigen Nethetal, der Weser und einem großen Rückzugsraum im Hinterland verfügte man bei ihnen über genau das, was Strabo zum Ausdruck bringen wollte. Man besaß diese Vorteile, die den Kelten aufgrund des Atlantik versagt blieben, denn Gallien ist Meer umspült, somit endlich und überschaubarer. Gleichermaßen profitierte auch Rom später vom Stromverlauf des Rhein, als sich das Imperium selbst zur Wehr setzen musste und sich die Germanen anschickten, es erst zu bedrohen um es sich dann einzuverleiben. Für diese Aufarbeitung ist es von Bedeutung, dass Strabo seinen geographisch/historischen Streifzug durch die ihm bekannte Welt und was er in seiner Geographica 1. Kap. 17 nieder schrieb an dem Tag enden lässt, an dem für Germanicus der Triumphzuges statt fand, nämlich dem 26.5.0017. Danach schweigen die Quellen und wir erfahren für eine lange Zeit nichts mehr darüber, was sich im Jahre 15 + in Germanien zutrug. Was sich aber ändern sollte, als Segestes samt Familie im Jahre 17 + in Rom erschien. Unser Wissen darüber endet abrupt mit den letzten Zeilen aus der Feder von Strabo und damit auch zunächst einmal unser Wissen über den Grund den damals Segestes hatte oder vorgab, sich in die Hände von Germanicus zu begeben und sich von ihm retten zu lassen. Der vierte Historiker nach Ovid, Manilius und Strabo der uns half viele Begebenheiten besser zu verstehen war der römische Offizier und Historiker Paterculus, der nach 3o + verstarb. Bedauerlicherweise widmete er sich aber mit keiner Silbe dem, was sich um die Person des Segestes in den Jahren 15 + und 17 + tat und was ihn damals um - und antrieb, so dass wir sowohl ihn als auch Florus und Dio bei dieser Betrachtung völlig außen vor lassen müssen. Um wieder fündig werden zu können, müssen wir einen Schritt weiter gehen und einen vorsichtigen ersten Blick sehr weit nach vorne werfen. Und dafür müssen wir uns hoch aufrichten, denn hundert Jahre sind eine lange Zeit. Strabo und alle anderen waren nun längst tot und neue unbedarfte nach rückende Generationen schufen sich mit gehörigem Abstand zum Vergangenen ihr eigenes Bild. Um diese Zeit schwang sich auch ein großer unter den bekannten Historikern auf, um über diese alten Dinge neu zu berichten und sie aufzurollen. Es handelte sich bei dem Mann nicht mehr und nicht weniger als um den berühmten und allseits geschätzten, 56 + geborenen und 120 + verstorbenen Publius Cornelius Tacitus der sich berufen fühlte, nachdem etwa vier Generationen verstrichen waren, die Vergangenheit noch mal aufleben zu lassen. Von wo, von wem, woher und woraus er sein Wissen auch immer nahm bleibt allerdings ein ewiges Geheimnis. Aber er dürfte wohl aus mehreren Quellen geschöpft, also in unterschiedliche Schriften Einblick genommen haben. Und er konnte lediglich aus alledem zitieren und abschreiben, da er selbst keine Zeitzeugen mehr befragen konnte und nie in Germanien war. Nun eine Analyse oder Studie zu wagen, in dem man den Inhalt seiner Jahrbücher, die er in den Jahren zwischen 110 + und 120 + verfasst und veröffentlicht haben soll mit dem zu vergleichen was uns Strabo hinterließ, ist eine interessante Herausforderung. Hier der eine nämlich Strabo, der noch ganz nahe am Geschehen stand und manches noch mit eigenen Augen sah, dem sich aber noch vieles an Detailwissen nicht erschlossen hat und dort Tacitus der aus einer völlig anderen Perspektive heraus über diese alten Zeiten berichtete. Tacitus war gut 20 Jahre alt, als der milde Titus Kaiser von Rom war und beendete sein Werk möglicherweise unter Kaiser Trajan, vielleicht auch erst unter Kaiser Hadrian. Und er erlebte einschließlich vieler unbekannt gebliebener Kaisergrößen insgesamt neunzehn von ihnen. Es war damals ein Kommen und Gehen unter der Herrschergestalten und das sich darunter kein Kaiser mehr befand, der sich sonderlich für das Tun und Wirken eines Germanicus oder Segestes interessierte liegt auf der Hand. Dies ließ aber andererseits Tacitus freie Hand und er konnte jene verstaubten Quellen eingesehen haben, für die sich vor ihm lange Zeit keiner mehr interessiert hatte. Quellen, die teils gut recherchiert aber auch tendenziell gewesen sein konnten und folglich hatte er die Qual der Wahl, welche er nutzen sollte. Aber wie sah es der weltbekannte Tacitus aus der Retrospektive seiner Zeit heraus. Ihm, dem vielleicht nun in Teilen auch die alten Unterlagen zugänglich waren, die damals auf dem Gesagten des Segestes basierten und die sich auf sein Schicksalsjahr 15 + bezogen. Er könnte aber auch Schriften vor sich liegen gehabt haben, die zweifelhafter Natur und Herkunft waren. Was wusste Tacitus also, woher konnte er es gewusst haben aber vor allem, was wollte er uns glauben machen, weil er es damals persönlich für richtig und plausibel hielt. Denn auch er wird auf Kontroversen und Unverständliches gestoßen sein, ähnlich wie es über hundert Jahre nach ihm auch Cassius Dio erging. Seinem Jahrbuch 1,57, dass er lange nach den Ereignissen des Jahres 15 + zu Papier brachte bzw. veröffentlichte, können wir einige neue Erklärungen entnehmen, von denen Strabo entweder noch nichts wusste oder nicht darüber berichtete. Und schon allein deswegen, weil Strabo so sparsam mit seinen Worten umging lassen sich seine wenigen Äußerungen zwar nicht mit Gold aufwiegen, aber trotzdem anders interpretieren, als die etwas umfänglicher ausgefallenen Erläuterungen des auf ihn 100 Jahre später folgenden Tacitus. So durfte Tacitus möglicherweise auch dort schürfen und konnte da seinen Wissensdurst stillen, wo die römischen Staatsbeamten damals die prekären Ungereimtheiten hinterließen, die man Segestes zwar abnahm ihm aber möglicherweise auch damals schon nicht glauben konnte oder wollte. Antworten die er im Jahre 17 + in seiner schwierigen Lage gab um sich rein zu waschen. Vielleicht stieß Tacitus sogar auf schriftliche Randnotizen von Beamten in denen diese schon ihre Zweifel zum Ausdruck brachten, denn man darf die damaligen „Protokolle“ nicht mit heutigen Maßstäben messen. Aber seinen Darlegungen lässt sich entnehmen, dass ein Großteil davon den Eindruck erweckt, als ob er nahezu ungefiltert aus dem Munde des Segestes entsprang und sich so in den schriftlichen Aufzeichnungen wieder findet, also 1 : 1 nur auf ihn zurück geführt werden kann bzw. auf ihn zugeschnitten war. (26.04.2020)

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